H. L. Mencken, Baltimore
Das amerikanische (Lredo
von L. Mencken, Baltimore (Fortsetzung aus Heft 8) IV.
Amerikas Demokratie
^ch muß noch einmal betonen, daß ich all diese Tatsachen nicht im Zorn und auch nicht aus Tadelsucht, sondern mit vollkommener Gelassenheit, lediglich als beschreibender Soziologe berichte. Dieser Gemütszustand findet nur wenig Verständnis in Amerika, wo alle menschlichen Regungen durch Leidenschaftlichkeit gesteigert werden und sogar so düstere Wissenschaften wie die Paläontologie, die Pathologie und die vergleichende Sprachforschung durch Vaterlandsliebe und andere heftige Neigungen stark gefärbt werden. Der typisch amerikanische Gelehrte leidet furchtbar unter der Nationalkrankheit: er schwebt in dauernder Angst. Entweder fürchtet er, daß irgend ein Käsehändler aus dem Kuratorium seine Ent- lassung beantragt, weil er eine Ansichtspostkarte von Prof. Dr. Scott Nearwg bekommen hat, oder daß irgend ein verschmitzter, schurkischer Deutscher oder Franzose seine Mogeleien entdeckt und anzeigt. Entweder macht er sich Sorgen, daß der Ausländer ihn hereinlegen will, oder daß irgend ein Konkurrent, dessen Frau liebenswürdiger gegen den Rektor der Universität oder der beliebter bei den College-Athleten ist, ihn um die Privatdozentur bringen wird. Auf allen Seiten von Befürchtungen geplagt, macht er sich durch einen bekannten psychologischen Prozeß — in Zornesausbrüchen Luft. Was er sagen will, spricht er in ärgerlich grollenden Worten aus, wie ein Neger eine kampflustige Kirchenhymns anstimmt, wenn er nachts an einer medizinischen Klini! vorbeigehen muß. Kurzum, er betont seine Korrektheit mit Geschrei.
Während des Krieges, zu einer Zeit, in der besonderes Mißtrauen und infolgedessen besonders gefährliche Situationen an der Tagesordnung waren, wurde von, dem Eifer — die Gesinnungstreue durch Wut zu bekunden — sehr stark Gebrauch gemacht. So gab einer der bedeutendsten amerikanischen Zoologen ein Werk heraus, in dem er zuerst die deutsche Benennung einer Spezies für verständnislos, lügenhaft und gotteslästerlich erklärte und sich dann allmählich zu der Behauptung verstieg, daß jeder Amerikaner, der in eine Scheibe Rinderbrust mit Meerrettigsauce hineinbeißt, der hinter geschlossenen Fensterladen nach dem „Simplizissimus" schielt, oder seinen Kindern einen Hampelmann kauft, der in Deutschland fabriziert worden ist, ein Staatsverräter und ein geheinies Werkzeug der Wilhelmstraße ist. Ebenso haben amerikanische Pathologen und Bakteriologen Professor Ehrlich ungefähr für einen Quacksalber erklärt, den Krupp zur Vergiftung von Amerikanern eigens gedungen hat; sie haben ihren frommen Schauder vor dem verstorbenen Professor Koch dadurch bekundet, daß sie in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen jede unumgänglich notwendige Anerkennung seiner Verdienste geflissentlich unterdrückten. Zuguterletzt kam noch die ganze, aus „zweitausend amerikanischen Historikern" bestehende Schar, die von Herrn Creel aufgeboten worden war, um auch die Volkskreise in die neue amerikanische Geschichtslehre einzuweihen, — eine Theorie, welche die Revolution als die beklagenswerte Ruhestörung eines sonst glücklichen Familienlebens darstellt, die von deutschen Intriganten vorsätzlich angezettelt worden war. Diese Schar erreichte den Siedepunkt der sittlichen Entrüstung, als sie die berühmten Sisson-Dokumente, — zum widerlichen Entzücken ihres englischen Verfassers — mit ihrem Beifall beschenkte.
Wie gesagt, ich bin von jener himmelanstrebenden Leidenschaftlichkeit frei und mutz daher meine Beobachtungen in der trockenen, phantasielosen, unbewegten
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