Das amerikanische Credo
Aber, wie bereits erwähnt, wo viel Licht ist, ist auch viel SchattenI Bei einer so überschwänglichen Liebe zur Tugend wäre es widersinnig, jene fein- gesittete Kultur zu beanspruchen, welche die eigene Wohlfahrt und das Wohl des Nebenmenschen nicht in striktem Gehorsam gegen harte Satzungen zu ereichen sucht, sondern durch Ungezwungenheit, durch Würde und eine gewisse, sehr leicht verletzliche Selbstachtung. Das heißt, es wäre widersinnig, von einem eingeschworenen Moralisten zu fordern, daß er zugleich — Kavalier ist. Die beiden sind in der Tat unversöhnliche Feinde: ihr ewiger Kampf erzeugt jenes brauchbare Werkzeug der Philosophie, das wir Zivilisation nennen. Der Moralist sorgt sür die Ordnung in der Welt, indem er die zügellosen Horden einschachtelt und ihre Regierungen organisiert. Der Ehrenmann mildert und verschönt diese Errungenschaften, er modelt die Pflicht zu einem Vorrecht und gestaltet den menschlichen Verkehr zu einer Brücke des echten Vertrauens und der Verständigung. Von dein Erstgenannten erwarte ich, daß er korrekt ist, von dem anderen, daß er das tut, was sich ziemt. Selten vermag der Mensch beides zugleich. Der Ehrenmann, den wir in unserem Falle auch Kavalier nennen können, nimmt es noch genauer wie das göttliche Gesetz. Man kann sich darauf verlassen, daß er die Tochter des Hauses, in dem er einen Löffel Suppe gegessen hat, hüten wird wie sein eigenes Kind. Fühlt er sich aber gerade durch keine besonders Verpflichtung gebunden, so wäre es vielleicht nicht einmal ganz unbedenklich, ihm seine Waschfrau oder seine Schwiegermutter anzuvertrauen. Der Moralist kennt in moralischen Dingen meistens keinen Ehrbegriff. Gesetzt den Fall, daß er als Zeuge gegen eine Frau auftreten muß. so wird er alles aussagen, was er von ihr weiß, selbst das, was er im rosig-verschwiegenen Dämmerlicht ihres Alkovens erfahren hat. Er wird es noch dazu nicht widerstrebend, schamhaft und gewissermaßen als Entschuldigung vorbringen, sondern erhobenen Hauptes und bereitwillig seinem hohen sittlichen Pflichtgefühl Genüge tun. Diesem Manne ist es ganz einfach unmöglich, wie ein Kavalier, die Unwahrheit zu sagen. Selbstverständlich lügt auch er, ebenso wie wir alle, und vielleicht häufiger als die meisten von uns aus dein anderen Lager, aber er tut es nicht, um den Sünder vor dem Sittengericht in Schutz zu nehmen, sondern um seine Bestrafung nach dem Sittengesetz zu sichern, zu beschleunigen, zu erleichtern und sensationeller zu gestalten. (Fortsetzung fvlgt)
Neue deutsche Jugend
In Heft 2 erschien ein mit O. B. gezeichneter Artikel: „Die toten Freunde", in dein das Buch „Neue deutsche Jugend" von Otto Brües besprochen wurde. Um Irrtümern vorzubeugen, sei der volle Name des Verfassers Otmar Best genannt.
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