H. L. Mencken, Baltimore
Das amerikanische (Lredo
Von L. Mencken, Baltimore
(Fortsetzung aus Heft 6)
-t^or mehreren Jahren verging sich einer meiner Kollegen während seiner journalistischen Tätigkeit in einer großen amerikanischen Stadt gegen jede journalistische Tradition, weil er einen Artikel veröffentlichte, der die einheimische evangelische Geistlichkeit mit geringen Ausnahmen als Lumpenpack bezeichnete und als Beweis für diese Beschuldigung ihren blühenden Handel mit gesetzwidrigen Trauungen anführte, mit der besonderen Spezialität, unmündigen Mädchen den kirchlichen Ehesegen zu erteilen. Er wies nach, daß eine Zweidollarnote genügte, um die meisten dieser Stellvertreter Christi zur Trauung eines vierzehn- oder fünfzehnjährigen Mädchens mit einem Burschen zu bewegen, der nur ein paar Jahre älter war. Der Beschuldigte schlug großen Lärm und verlangte in üblicher Weise, daß die Anstoß erregende Zeitung einen Widerruf veröffentlichen und dem strafbaren Verfasser die Mitarbeiterschaft entziehen sollte. Dieser abonnierte nun bei einer Agentur auf die Ausschnitte aus den Zeitungen des ganzen Landes, die Mitteilungen über die allgemeine Wirksamkeit der evangelischen Geistlichen in anderen Städten enthielten. Der Erfolg war der, daß ihm eine reichhaltige Sammlung von schmutzigen Skandalgeschichten zugesandt wurde und daß er sie — zur größten Erbauung dieser sittenstrengen Gemeinde abdrucken ließ. Es stellte sich heraus, daß die bekannten christlichen Leithammel im Norden, im Osten, im Süden und Westen dauernd eine Tätigkeit entfalteten, die einem Pöbelpolitiker oder einem Austernöffner zur Schande gereicht haben würde. Es handelte sich um dunkle Geldgeschäfte, um grobe geschlechtliche Verfehlungen und kleinere Vergehen aller Art. Die tagtägliche Veröffentlichung dieses Beweismaterials bot dem Chronisten den Vorteil der Offensive und half ihm auf diese Weise aus der Klemme. Zuletzt kam die Himmelshierarchie, vielleicht durch seinen Angriff angeregt, ihm zu Hilfe. Jehova, der höchste Gott, ließ es in Gnaden geschehen, daß ein bekannter Methodistenprediger, — es war just der Hauptwidersacher des Chronisten — bei einer unaussprechlichen geschlechtlichen Perversität im Hauptquartier des Christlichen Vereins Junger Männer (VounZ ^en's Lluistmn ^sZOLiation) ertappt und deshalb gezwungen wurde, die Stadt innerhalb einiger Tage zu verlassen. Und der Chronist behauptet, daß diese Katastrophe sich durch göttliche Fügung ereignet hat, — sie kam vollkommen unerwartet. Er kannte den Betreffenden als Lügner und Spitzbuben, aber er hatte keine Ahnung, daß er auch ein Schmutzfink war. Dieser Zwischenfall setzte die „Defensive" so stark ins sittliche Unrecht, daß es aus Schicklichkeitsgründen unmöglich war, den Feldzug weiter zu führen. So war der Chronist nun plötzlich zu allerhand, wenig echten Manövern gezwungen, um die Verfolgung, die Auslieferung, das Verhör und die Jnhaftnahme des geistlichen Herrn zu verhindern, und diese Bemühungen waren von Erfolg gekrönt, trotzdem sie ihm nicht von Herzen kamen. Unter angenommenem Namen predigt er nun das Evangelium Christi und die Lehre Wilsons, jenes Apostelpräsidenten der Menschlichkeit, der im fernen Westen sein Golgatha erlebte. Er gehört, wenn ich so sagen darf, zu den Hauptanwälten des Alkoholverbots, der Bekämpfung der Unsittlichkeit und der übrigen methodistischen Reformen.