Weitspiegel
preise, eine Kontrolle der Neichsbank und Beaufsichtigung der deutschen Ausfuhr von Waren und Kapital kommen in Frage. Bei der Tendenz Poincares wird noch viel weniger als bei Briand jenes großzügige Anpacken des Entschädigungskomplexes zu erwarten sein, das allein Deutschland in die Lage versetzt, an den Aufbauberatungen von Genua anders als rein theoretisch teilzunehmen.
Wird sich jedoch Poincarö darauf beschränken, durch rücksichtsloseste Anwendung des Versailler Friedens und des Londoner Ultimatums das deutsche Volk zur Fronarbeit zir zwingen? Zwangsmaßnahmen schweben ihm vor. Die Rhein- grenze möchte er über die 15 Jahre des Versailler Friedens hinaus besetzt halten. Das Projekt der Schaffung autonomer, von Preußen oder Deutschland gelöster Staaten am Rhein wird er ebensowenig fallen lassen wie das Briand noch in Cannes tat. Darüber hinaus wird er Süddeutschland vom Neichsverband zu lösen trachten, polnische Wünsche auf eine Umstürzung der Abstimmungsergebnisse in Ost- und Westpreuszen nähren, den Tschechen weiteren Appetit auf Teile Oberschlesiens machen und sogar die Aufmerksamkeit der Dänen auf die deutsch gebliebenen Gegenden Schleswigs lenken. Die Zertrümmerung deS Deutschen Reichs ist nun einmal das Ideal der von Poincmö vertretenen Kreise. Ihnen liegt nichts an der Erneuerung Deutschlands. Entsteht dort das Chaos, so lassen sich die angedeuteten AbsplitterungSpläne um so leichter verwirklichen und Frankreichs Grenze kann an den Rhein vorgeschoben werden.
Hinter den Kulissen hatBelgien, und zwar auch König Albert persönlich, eine lebhafte Wirksamkeit für Poincare entfaltet. Die Belgier fürchteten für ihre Priorität auf die deutschen Zahlungen. Ihnen war Briand aller Versicherungen hinsichtlich der Barzahlungen doch nicht energisch genug. Dabei haben Theuuis und Jaspar die diplomatische Lage sehr gewandt ausgenützt, in dem sie in Cannes eine militärische Vereinbarung mit England ausgemacht haben, die Brüssel endlich das ersehnte Gegengewicht gegen das Bündnis mit Frankreich bietet. England ist sichtlich enttäuscht darüber, daß Poincarö, der während der Kabinettsbildung seine freundschaftlichen Gefühle für Frankreich stark betonte, das französisch englische Bündnis nicht in den Vordergrund seines Programms stellte. Ihn: gilt die Kleine Entente mehr und auch den Völkerbund schätzt er höher. Poincarö wollte aber zugleich auf die innere Entwicklung in England Rücksicht nehmen und durch allzu ausgesprochene Betonung des längst nicht überall populären Bündnisplanes der künftigen Entscheidung nicht vorgreifen. Durch das Scheitern von Cannes sind die Wahlen zunächst verschoben worden. Wie verlautet, will Lioyd George die endgültige Bildung der irischen Regierung in Dublin und die Konferenz von Genua abwarten. Inzwischen treten die Parteien bereits in den Wahlkampf ein. Lord Derby hat von der gemeinsamen englisch-französischen Grenze am Rhein gesprochen, Asquith Maßnahmen zur Erleichterung des Wirtschaftslebens gefordert. Clynes droht mit Unruhen wegen der Arbeitslosigkeit. In Ägypten kommt man nicht vorwärts und Indien bereitet Sorgen. Grey bekämpft wie Poinccnö die Konferenzen. Die Stille und gründliche Tätigkeit der Kanzleien soll an die Stelle der Schaugcpränge treten. Die Ergebnisse aller bisherigen Methoden waren kläglich, weil noch nicht der Geist herrscht, der eine sachliche Verständigung erlaubt, sondern noch immer Leidenschaften und selbstsüchtige Gefühle die Richtung bestimmen. O, G. von wesendonk
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