Deutschlands Lage in Europa
Geistig beförderte in den Jahrhunderten westeuropäischer Überlegenheit Deutschlands zentrale Lage unser empfängliches Offensein für das Fremde, während unsere eigenen großen Welttage, das Zeitalter der Kirchenreformaiiou und das Zeitalter des deutschen Idealismus empfangenes Licht reicher zurück- gaben; doch wurden seine Strahlen nicht so willig überall aufgenommen, wie umgekehrt das Land der Mitte alles Fremde empfing.
Erst als nach erkämpfter Freiheit (1816) auch die Einheit gewonnen war (1870) — nicht ohne neue schmerzliche, geschichtlich begründete Verluste (Osterreich), — ließen Freiheit. Einheit und Macht erneut auch die Wirtschaft die Gunst der zentralen Lage ausschöpfen.
Aber der fast explosive AuSbruch des so lange durch politische Schicksale niedergehaltenen politischen Gedeihens zog England auf die Seite der Flankenmächte Frankreich und Nußland. Unsere Rüstung und unser Bündnissystem hielt mit dem Druck der feindlichen Einkreisung nicht Schritt. Die wirtschaftlichen Vorteile unserer geographischen Lage wurden zum Vorwurf und Kriegsgrund gegen uns, der strategische Nachteil unserer Lage — verdoppelt durch die neue Möglichkeit des Hungerkriegs — zum Anreiz, alle Ränder gegen die Mitte zu Pressen. Dem konnte nur vermehrte Rüstung, Machtsinn, Einigkeit des ganzen Volkes wehren; aber offen nach allen Seiten, friedlich nach außen, vcrständigungs- bereit war der deutsche Geist. Frühere Erfahrungen mit der Kraft des deutschen Volkes spornten den Feindbund zur äußersten Anstrengung. Auch wir vervielfachten die Abwehr, steigerten die Verteidigung, bis die ganze Welt über uns Herzog, aber wir unterlagen der Zahl und besseren strategischen Lage der Gegner. Und nun soll Mitteleuropa ewig gefesselt bleiben. Wehrlos, mehr als nur einen Pfahl im Fleisch, auf leisjesten Wink eines Feindes gewalttätigem Druck von allen Seiten ausgesetzt, so liegen wir da, und den Fetzen, die man uns rings vom Leib des Volkstmns riß, sollen immer weitere folgen. Fast ein Drittel der Deutschen in der Welt lebt heute außerhalb des Reichs.
.Deutschlands Lage ist — nachdem die einzigartige Gelegenheit im Mittelalter unbegriffen blieb — zur Beherrschung Europas nicht geeignet, so wenig wie man früher Burgen in die flache Mitte einer Stadt gelegt hat; sie wurden am Rand der Stadt, mit dem Rücken gegen das Freie gelehnt erbaut, und wo Berghohen fehlten, mit Wassergräben geschützt. Uns fehlen natürliche Grenzen; die künstlichen der Wehrmacht sind uns verboten. Die Sicherheit Deutschlands, die Unverletztheit seiner Grenzen, die Selbstbestimmung seines Staates scheint für immer dahin. Beherrschung Europas haben wir seit sieben Jahrhunderten nicht mehr gesucht (und auch vorher nicht planmäßig). Aber das heutige entwaffnete, übervölkerte Deutschland, von waffenstarrenden, herrschsüchtigen Völkern umgeben, weiß nicht einmal, wie es seine Freiheit und seinen Frieden schützen soll, zumal auch die Spannungen zwischen den Großmächten uns nicht mehr dieselben Aussichten bieten, seitdem Weltprobleme die europäischen Fragen mehr und mehr in die zweite Reihe gedrängt haben. In diesen Umständen nun, die an die schwersten unserer Geschichte erinnern, bewahrt uns freilich auch wieder die mittlere Lage unseres Landes wirtschaftliche Vorteile aus der letzten Zeit unserer
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