Fritz Kern
er uns verwöhnt, uns verleitet, auch ohne Ausbau eines eignen starken Staates nichts von außen zu fürchten und alles mögliche rings herum an uns zu raffen.
So konnte das deutsche Reich der mittelalterlichen Kaiser (911—1250) Italien und das Kaisertum gewinnen, — das fressende Nessushemd des deutschen Herkules, — das deutschfranzösische Zwischenland (Niederlande, Lothringen, Burgund) an sich ziehen — was nach 1250 den Franzosen zum Mungsfeld ihrer Ausdehnungspolitik wurde, — und schließlich die östlichen Grenzvölker zwischen Elbe und Peipussee, zwischen Main und Theiß unter deutsche Führung stellen. Diese Ostausbreitung war dauerhafter Gewinn, aber auch nur, soweit Volks- siedelung gelang, also bis zur Memel, Oder, March und Drau.
Gegen die damals meist schwachen und zersplitterten Franzosen, Polen, Tschechen, Dänen usw. bot unsere zentrale Lage überwiegend strategische Vorteile als Ausfallsstellung. Wirtschaftliche Vorteile aber begannen sich für das Herzland Europas zu entwickeln, je mehr der Handel zwischen Süd und Nord, Ost und West des Erdteils an Bedeutung gewann.
Vergleichen wir damit das Bild, wie es sich ein halbes Jahrtausend nach dem endgültigen Zerfall des deutschen Kaisertums darstellt (1750), so hat sich der Vorteil fast ausschließlich zum Nachteil gewandelt.
Großmächte sind entstanden in West und Ost, und die älteste, aber freilich stets mehr scheinbare, nur aus Mangel an Wettbewerb einst überragende Großmacht der Deutschen ist zersplittert. Schwere, strategisch fast entscheidende Grenzverluste sind infolgedessen schon eingetreten (Niederlande, Lothringen, Elsaß, Schweiz, Pommerellen usw.). DaS Europa vorgelagerte England hat, seitdem es Großmacht ist, den Deutschen und Niederländern den wichtigsten Teil des Welthandels weggefangen. Frankreich und Rußland, vorübergehend sogar Spanien und Schweden, halten Deutschland in der Zange. Die mitteleuropäische Ausfallssiellung hat sich infolge der Erstarkung der Ränder, der Zersplitterung der Mitte Europas in eine schwer bedrohte belagerte Festung verwandelt. In dem „unfertigen" machtleeren Europa des frühen Mittelalters konnte die leidlich kompakte Mitte überströmen nach allen Seiten. Jetzt aber haben sich die Ränder mit Macht gefüllt nnd dringen vor gegen die Mitte, welche sich gleichen Schritts zu verstärken versäumt hat. Dennoch ist trotz jener klaffenden Wunden an den Grenzen diese deutsche Mitte Europas noch durch Volkskraft so stark, daß der konzentrische Druck nur dann lebensgefährlich wird, wenn zugleich die beiden größten Glieder des Reichsmonstrums, Preußen und Osterreich, in Fehde stehen. Und selbst dem Angriff von drei Großmächten widersteht Preußen, weil Friedrich ein Mann ist. Gegen Napoleon, wie einst gegen die Römer, erwies Mitteleuropa, so gefährdet es ist, und so traurig auch seine eigenen Ausbreitungsversuche zusammengebrochen waren, sich in schwerer Defensive siegreich. Deutschland vermochte nicht Europa zu beherrschen; aber es ließ sich auch nicht dauernd knechten. Jedoch so weit war es gekommen, daß nicht mehr die eigene Kraft allein, sondern nur in Verbindung mit der Uneinigkeit der anderen europäischen Mächte, Deutschland die Freiheit zurückgab.
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