Hermann Oncken
Lassalle und Vismarck
die Väter des Reichstagswahlrechts Von Hermann Gucken")
(8 s war vieles, was sie persönlich einander rasch verstehen ließ, und nicht wenig, was sie, einmal auf dem Wege, auch sachlich bald einander näher brachte: es gab sehr wesentliche Fragen, über die sie sich leichter verständigen konnten, als es mit jedem andern preußischen Politiker möglich gewesen wäre. Das war noch das wenigste, daß sie in der Einschätzung ihrer gemeinsamen politischen Gegner übereinkamen. In Bismarcks vertraulichen Briefen findet man über die öffentliche Meinung und das unpolitische Philistertum der Deutschen, über ihren rechthaberischen Individualismus uud kleinstaatlichen Besondernngstrieb, über den Mangel an politischer Zeugungskraft bei den deutschen Liberalen manche Wendungen, die mit Lassallcs höhnenden Diatribcn in feinen Reden und in seinem „Bastiat-Schulze" innig verwandt sind: so reagieren Hcrrennaturen gegen diese ganze Geisteswelt und Gemütsverfassung des bürgerlichen Liberalismus. Aber auch die positiven nächsten Absichten des Lassalleschen Programms fanden bei Bis- marck Widerhall oder gar Zustimmung. Dieser Sozialist, der den Staat anrief, schien ihm nichts Unmögliches zu verlangen. Hatte der Minister doch schon im Juui 1863, vermutlich unter dem Eindruck der beginnenden Arbeiteragitation, einer Kommission zur Prüfung der Arbeiterfrage, die er amtlich einberief, auch die Frage vorlegen lassen, „ob der Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber? nicht mit der Regelung der Arbeiterverhältnissc znin Vorbild für die übrigen Fabrikbesitzer vorangehen könne". Selbst mit den Produktivgenosseuschaften im Staatskredit war er bereit, wenigstens einen Versuch zn machen, und als sich nach einigen Monaten eine Gelegenheit bieten sollte, griff er mit ungewöhnlicher Energie durch. Denn er hatte nicht nur im Schoße des Staatsministerinms nachdrücklich die Pflicht nnd die Fähigkeit des Staates zu betonen, den Bedürftigsten seiner Angehörigen die helfende Hand zu leihen; er stieß anch auf den Widerstand der in anderen Anschauungen aufgewachsenen lokalen Organe, die „den parteilosen Standpunkt, von welchem alleiu diese schwierige Angelegenheit richtig aufgefaßt und dem staatlichen Gesamtintcresse entsprechend behandelt werden kann, nicht einnahmen, sondern sich ausschließlich mit den Interessen und Einflüssen der Arbeitgeber identifizierten"? und als er im Jahre darauf im Abgeordnetenhause wegen dieses Eingreifens in die Produktiousverhältuisse angegriffen wurde, verteidigte er sich wohl mit den Worten des jungen Friedrich des Großen: „()usnä je sersi roi, je serai un vrai roi äeZ gueux." Mag bei diesem Vorgehen Bismarcks auch noch so viel taktische Berechnung mitspielen, die Grundstimmnng, auf die Lassälle stieß, stand der seinigen jedenfalls näher als die der Manchcstermänner oder die von Schulze-Delitzsch. Noch bedingungsloser konnte man über das Ziel des allgemeinen Wahlrechts übereinkommen, wenngleich die Motive auf beiden Seiten ganz verschieden lagen uud auch die Art der Durchführung verschieden angesehen wurde. Bismarck wollte es im Rahmen einer Nationalpolitik, zur Überwindung aller Partikularistischen Widerstände, und er rechnete den Liberalen gegenüber auf
*) Wir entnehmen diese Probe mit Einwilligung des Verlags dem soeben von Erich Marcks und K. Alex, von Müller (Stuttgart und Berlin, Deutsche Verlagsanstalt) herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk „Meister der Politik", in welchem eine Reihe unserer besten Historiker sich zur biographisch-universal-geschichtlichen Darstellung groszer Staatsmänner von Perikles bis auf unsere Zeit, für das gebildete deutsche Publikum, zusammengetan haben.
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