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Russische Schauspielkunst
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Russische S ch a n s P ielk u n st

Russische Schauspielkunst

Von Artur Michel

Wir haben in Deutschland Heute keine Schauspielkunst. Wir haben geniale Schau­spieler und geniale Regisseure. Wir haben die Höflich und die Sträub, Bassermann und Krauß, Klöpfer und Kortner. Wir haben Reinhardt und Jeßner. Aber wir haben keine im festen Boden einer einheit­lichen Kunstgesinnung wurzelnde, durch Ein­heit der Kunstmittel und der Kunstübung zu gleichem Adel des Wuchses getriebene Schauspielkunst. Wir haben in der ersten Theaterstadt Deutschlands kein Theater mit einem Ensemble.

Was ein Ensemble bildet: Einheit der Mittel, der Übung und der Gesinnung haben die Schauspieler des Moskauer Künstler­theaters uns vor Augen gebracht, die gegen­wärtig in Berlin gastieren. Die Vorgeschichte dieses Gastspiels die Abtrennung eines in Charkow spielenden Teils der Stanis- lawskischen Truppe von ihrem Rückweg nach Moskau, ihre Fahrten über Odessa und Tiflis nach Südost- und Mitteleuropa, ihre Triumphe in Wien und anderwärts brauche ich nicht zu schildern. In Berlin, wo Stanislawskis Auftreten vor Jahren Sensation erregt hatte, wurden sie mit Spannung erwartet. Die Erfolgs waren diesmal nicht geringer als damals: freilich vor einem fast ganz aus Russen zusammen­gesetzten Publikum, während damals Deutsche den Zuschnuerraum füllten. Über das frühere Gastspiel ist viel geschrieben worden. Wer, wie ich, damals nicht dabei gewesen ist, also nicht vergleichen kann, wird sich an das jetzige Auftreten halten müssen.

Als deutscher Betrachter ist man jeden­falls auf den künstlerischen Charakter der Moskauer Truppe bei dessen Beurteilung man davon absehen kann, daß einige ihrer führenden Kräfte, besonders Stanislawski selbst, diesmal fehlen heute ganz anders eingestellt als vor IV2 Jahrzehnten. Wie

gegenüber der Dichtung und der bildenden Kunst, so ist gegenüber der Bühne in Deutsch­land der Glaube an die allein seligmachende Kraft des Realismus und Impressionismus längst ins Wanken gemten. Zwar beherrscht der mit diesen Schlagworten zu kenn­zeichnende Darstellungsstil noch die Mehr­zahl der Bühnen und der Schauspieler. Aber alles strebt längst von ihm weg. Die sührenden Geister wollen weder Milieu noch Psychologie auf der Bühne geben oder sehen. Die Inszenierung hat sich vom realen Raum als der konkreten Heimat der an ihn ge­bundenen Menschen zum ide.rlen Raum als dem abstrakten Schauplatz zeitloS-überräum- licher Menschheitskonflikte gewandelt. Der menschliche Körper soll nicht mehr konventio­nelle Wirklichkeiten nachzeichnen. LebenS- echtheit des wie auch immer beseelten mimischen Ausdrucks vermitteln. Der körper­liche Ausdruck wird allein nach seinein Gehalt an seelischer Spannung und der Kraft, sie zur Entladung zu bringen, beurteilt. Der schauspielerische Urdrang körperlicher Beredt- smnkeit, sich auswirkend in rhythmisch be­wegter, dynamisch gegliederter Rede und Geste, setzt sich von neuem durch. Nicht der Wirklichkeitsgehalt, sondern der JntenfiiätS- gehalt wird zum Wertmaß schauspielerischer Leistung. Die von dieser Entwicklung er­zeugten Gegensätze stehen auf der deutschen Bühne heute hart nebeneinander, stehen im Kampf oder schließen Kompromisse mitein­ander. Das Alte ist noch mächtig, und das Neue, in bunten Formen sich äußernd, hat weder schon die Kraft noch die Wucht, nach­haltige Siege zu feiern.

So tritt heute der deutsche Betrachter der Schauspielkunst der Russen mit zwiespältigen Empfindungen entgegen. Denn was sieht er? Vor allem eins, was der deutschen Schauspielkunst gänzlich fehlt: eine Ensemble­kunst, ein Miteinanderverwachsensein aller