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verficht bekommen, daß er das große Ziel der Völkerverbrüderung dennoch erreichen werde. Er hofft, den imperialistischen Kapitalismus jetzt durch gewaltsame Revolution stürzen zu können. In Rußland und in den mitteleuropäischen Reichen hat die Revolution bereits gesiegt. Bald, so glaubt er, wird auch über Italien, über Frankreich, über England die rote Fahne wehem Dann ist Raum für eine neue Weltordnung der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Völkerversöhnung.
Wenn heute ein Sozialdemokrat den Satz von Kiest liest: „Es gibt nur eine Macht, welche die Völker sittlich binden und innerlich verbrüdern kann: das Christentum" (S. 424), so wird er noch weit lieber als früher geneigt sein, überlegen zu lächeln und mit guter Zuversicht am Rande bemerken, der Sozialismus werde noch viel vollkommener die Völker binden und verbrüdern, als es das Christentum je vermocht höbe. Die Weltrevolution ist nahe herbeigekommen. So wie die ersten Christen das Kommen des Reiches Gottes über Nacht erwarteten und fast täglich nach den Wolken des Himmels sahen, ob nicht der Weltenrichter auf ihnen herniederschwebe, so hat der Weltkrieg den gläubigen Sozialdemokraten die Aussicht beschert, daß sie den Zukunftsstaat, ihr ersehntes Para- dies lauf Erden, in wenigen Jahren noch zu -erleben hoffen dürfen. Der alte Bebel, erwartete auch, den Zukunftsstaat noch zu schauen. Dieser schier apokalyptische Glaube hat sich an ihm zwar nicht erfüllt, tut es aber vielleicht an seinen unmittelbaren Nachfolgern. Auch außerhalb der Sozialdemokvatie stellt man uns die Weltrevolution in sichere Aussicht: ich verweise z. B. auf den Aufsatz von Dr. Richard Hennig: „Die drohende Atomisierung der Großmächte" in Nr. 49 der Grenzboten. Der Weltrevolution aber muß es dann doch Wohl ein Leichtes sein, den sozialistischen Grundsätzen über Völkerverständigung Anerkennung zu erzwingen.
Ich für meine Person möchte noch bezweifeln, ob die Weltrevolutiou wirklich unmittelbar bevorsteht. Man kann nicht ohne weiteres sagen, ebenso gut, wie der russische Umsturz nach ein! bis anderthalb Jahren auf Teutschland übergegriffen habe, werde er in kaum längerer Zeit auch die Enteuteländer anstecken. Deutschland war Mährend der ganzen Entwicklung der russischen Revolution bereits ein Staat, der, wie wir heute wissen, langsam aber sicher einer schweren Niederlage entgegenging. In solcher Lage war der Boden doch noch anders für die Revolution vorbereitet, -als heute im siegreichen Frankreich oder England, mag dort auch noch so viel revolutionärer Zündstoff aufgehäuft sein. Aber selbst wenn Frankreich und England heute der Revolution entgegentrieben: wer kann wissen, ob nicht bis dahin in Rußland und Deutschland' die Revolution bereits abgewirtschaftet hüt! In Rußland scheint das Bolschewikiregiment seinem Ende zuzusteuern, und in Deutschland wird unter dem Druck der Ententeheere und dem wachsenden Unwillen der FronsioldatM und sehr weiter sonstiger Volkskreise die Herrschaft der Arbeiterräte bald von einer geordneten demokratischen Zentralgewalt abgelöst werden. Die Nationalversammlung wird uns wahrscheinlich eine demokratische Republik mit starkem sozialistischem Einschlag, aber keine proletarisch-revolutionäre Diktatur bescheren. Dann wird Deutschland nicht in dem Grade Propagandaherd für den Umsturz in Westeuropa sein, wie das bolschewistische Rußland es für uns gewesen ist. Siegt aber wirklich die proletarische Revolution, wenn nicht jetzt, so doch bei späterer Gelegenheit, in der ganzen Welt, dann werden die siegreichen Arbeitermassen erst den Beweis zu erbringen haben, ob sie gegenüber den kapitalistischen Unternehmern die internationalen Beziehungen wirklich veredeln können. Es ist auch möglich, daß der kapitalistifche Imperialismus nur von einem Sozialimperialismus abgelöst wird, der vielleicht kaum minder wilden und gewalttätigen Haß zwischen den Völkern sät. In Australien z. B., wo die Arbeiterpartei längst die Herrschast hat, ist sie der Träger des unerbittlichen Rassenhasses gegen die Gelben. Nicht anders denken die Weißen Arbeiter im Westen von NordameriZa über die „Völkerverbrüderung". Die proletarische Revolution sührt an Stelle des Klasseninteresses der Unternehmer das Klasseninteresse der Arbeiter zur politischen Macht. Es ist zu fürch--