Wandlungen
Patriarchalischen Kindheitstagen unwiderruflich entwachsen sind und ihrem steigenden Bewußtsein vom Staate gesteigerte Rechte im Staate entsprechen ^ müssen, will man nicht Wider Naturgesetze freveln.
Gewiß, bei solchen psychologischen Massenprozessen, wie sie die Demokratisierung darstellt, wird — das liegt schon im Worte — das eigenartige Individuum vernachlässigt, aber wir sind des Glaubens, daß sich wahre Aristokratie auch unter Opfern durchzusetzen versteht, wenn sie ihren Namen mit Recht trägt. Diese Opfer sind zurzeit notwendig.
Von den beiden Krüsten, die, nach der allein- richtigen Anschauung, in engster Vereinigung alles geschichtliche Leben schaffen — denen des Individuums und der Gemeinschaft, steht, daran kann kein Zweifel sein, heute die zweite im Vordergrund. Es ist das der natürliche Rückschlag auf das Heroen-Zeitalter Bismarcks. Nicht nur der Gedanke des eigenartigen Individuums ist für das Volk Luthers, Goethes, Nietzsches, Bismarcks charakteristisch, auch der Genossenschaftsgedanke ist altgermanisches Gut. Wenn es wahr wäre, daß „die Tage der Parlamente, der Demokratien sich abwärts neigen", wie jüngst der bekannte Berliner Universitätslehrer Roethe wieder behauptete, so weiß man nicht, was er ohne atavistische Rückbildungen an ihre Stelle setzen will. Nein, Nur können aus unserer Zeit nicht heraus, und wenn wir noch so sehr mit Surrogaten des „Volkswillens" wirtschaften müßten.
Wir wissen Wohl, daß es in der Politik so wenig wie in der Religion ein Überzeugen gibt, und daß — Bismarck spricht einmal in den Gedanken uud Erinnerungen davon — dieses Faktum unbewußt die bestehende Reizbarkeit verschärft, was dann dem liomo poUtic-us jenes Odeur verleiht, dessen sich seder Privatmann schämen würde. Keine Zeit uud kein Volk ist von dieser Berufskrankheit verschont geblieben. Das Deutschland von heute aber kann sie am wenigsten vertragen. Der erste Kanzler mochte von der Höhe seines Standpunkts über den Parteien noch halb ironisch über dergleichen Dinge urteilen, ruhte doch das Steuer des Reichs fest in seiner Hand trotz Dogmengezänk und Deklarcmtenstnrm. In der Gegenwart, wo uns die großen Führer fehlen und die Parteien selbst die Verantwortung übernehmen mußten, fällt ihre Uneinigkeit, der innerpolitische Hader ganz anders ins Gewicht. Dessen sollte sich jeder bewußt sein, der jetzt unseliger Partewsycdose seinen Tribut nuncwcl.
Es wird zwar viel von nationaler Geschlossenheit geredet; aber die Wasser scheinen noch nicht hoch genug gestiegen, denn vorläufig leistet man sich trotz dergleichen Beteuerungen nach wie vor den Lnxus gegenseitiger Anpöbelung und Verdächtigung, und scheut vor gelegentlichen Tendenzfälschungen nicht zurück, wie man bei vergleichender Zeitungslektüre fast jeden Tag beobachten kann.
Während so die inneren Voraussetzungen für das neue politische Leben noch bedenklich mangeln — die Schwierigkeiten der geistigen Umstellung dürfen allerdings auch nicht verkannt werden — macht die sozusagen technische Strukturveränderung auf dem Boden der Reichsverfassung schnelle Fortschritte. -
Die Bildung des engeren Kriegskabinetts dürfte mit der Ernennung des Abgeordneten Haußmann ihren Abschluß erreicht haben, wenn 'der Zweck der ganzen Einrichtnng gewahrt bleiben soll. Die nunmehr fünf Staatssekretäre ohne Portefeuille sind charakteristische Erscheinungen einer zum parlamentarischen Regime sührendenEntwicklung; wir finden sie in ähnlicherSitnation 1820 unter Ludwig dem Achtzehnten. Die engere Verbindung zwischen Parlament und Regierung soll überdies noch das Institut der parlamentarischen Unterstaatssekretäre verbürgen, die deshalb ebenfalls von eigentlicher Ressortarbeit entbunden bleiben.
Man beachte aber Wohl den besonderen Charakter dieser Verbindung. Die erstgenannten parlamentarischen Funktionäre können nämlich nicht Mitglieder des Bundesrats sein. Was das bedeutet, werden wir gleich sehen. Den starken Widerständen, die sich in den Einzelstaaten und natürlich auch in den Reihen der „föderalistischen" Partei, des Zentrums, gegen die vermutete Aufhebung des