Neue Parteiprogramme
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Zinken, wo man ja jetzt ganz offen die „Volkssouveränität'' fordert"), darunter verstanden wird. Wir haben in den Kreuzartikeln wiederholt darauf hingewiesen, daß man in sozialdemokratischen Kreisen durchaus nicht allgemein das inner- politische Evangelium der Fortschrittspartei, die parlamentarische Regierungsweise, anerkennt. Da man sich bis zum heutigen Tage**) nicht hat entschließen können, in verantwortlicher Form an der Regierung teilzunehmen, vielmehr nach der Ge- wohnheit des deutschen Frühkonstitutionalismus auf Gewaltentrennung zwischen Minister und Abgeordneten bedacht war, so kann jene Haltung nicht wundernehmen. Den „Obrigkeits"staat will natürlich auch diese Strömung unter den Sozialisten abschaffen, aber der an seiner Stelle von ihnen erstrebte Volksstaat soll nicht nach den Methoden des part^ System eingerichtet werden, das als Erfindung der „Bourgeoisie" verdächtig ist, sondern vielmehr so, daß die allerdings ihres konservativen Kastencharakters zu entkleidende Bureaukratie mehr oder weniger am Ruder bleibt, das Parlament dagegen in scharfer Kontrolle und in demokratisch- sozialistischem Sinne den Kurs bestimmt. Man hat hierfür das Schlagwort vom „Verwaltungsstaat" ausgegeben — auch das Aktionsprogramm gebraucht es in der Einleitung. Das will besagen, daß der Hauptwert auf eine im sozialistischen Klasseninteresse — das naiv mit der salus publica gleichgesetzt wird — geführte, Administration wirklich sachkundiger Fachleute gelegt wird. Eine von unten auf demokratisierte Bureaukratie, wie sie ähnlich dem Freiherrn vom Stein vorschwebte, ist jenen Kreisen um Heilmann (bei uns) und Renner (in Österreich) eine bessere Gewähr sozialistischer Zukunft, als das kontrollenlose Verwaltungsregime der Parlamentsmehrheit niit ihrer Patronage- und Korruptionswirtschaft. Man hat in diesem, Sinne den Parlamentarismus geradezu als „Abweg von der Demokratie" bezeichnet.
Mag dies auch von der gegenwärtigen Parteiorthodoxie bestritten werden — der „Vorwärts" schwört auf das parlamentarische System —, so können sich doch die Anhänger des Verwaltungsstaates darauf berufen, daß jenes System dem sozialdemokratischen Programm von jeher unbekannt war. Den Volksstaat sozialistischen Gepräges umschrieb jüngst eine Kritik der „Glocke" zum Unterschied von den Idealen unserer bürgerlichen Demokratie folgendermaßen: VoWstacit ist weder parlamentarischer Parteistaat noch Obrigkeitsstaat noch Korporationsstaat. Aber er braucht den starken mittleren Willen einer leistungsfähigen Obrigkeit neben der wirklich sachverständigen Aufsicht seines Parlaments und der selbsttätigen Mitarbeit der zusammengeschlossenen Jnteressentengruppen. Der „sozialistische Ver- waltungsstaat" des Aktionsprogramms wird an diesen Elementen nicht vorbeigehen dürfen. Die vorsichtige Sprache der Kommission zeigt auch, daß man sich des strittigen Charakters der Materie wohl bewußt ist und absichtlich vermeidet, von der „Einführung parlamentarischer Regierungsweise" zu reden, wie es die interessierte Presse („Frankfurter Zeitung" u. a.) zu Unrecht wahr haben möchte.**')
Trotzdem werden natürlich die Kompetenzen der Volksvertretung erweitert. Zu der schon in Erfurt geforderten Entscheidung des Reichstags über Krieg und Frieden tritt jetzt noch das in der Gegenwart weitverbreitete Verlangen, ihn auch bei der Abschließung von Verträgen föderativer Natur („Bündnisverträge mit fremden Mächten") zu beteiligen. Es ist dies nur eine Folgerung aus dem gleichfalls zeitgemäßen Postulat, die Geheimdiplomatie abzuschaffen. Umwandlung des stehenden Heeres in ein Volksheer (1891 hieß es noch dem alten Milizgedanken
') Vgl. z. B. den Artikel: „Der Sinn der Regierungskrise" in Nr. 467 des „Ber- Kner Tageblattes".
Die jüngsten Ereignisse scheinen ja allerdings eine Wandlung anzudeuten. Das „Negierungsprogramm" der Partei vom 23. September verlangt zwar „Berufung von Regierungsvertretern aus der Parlamentsmehrheit", setzt aber doch hinzu: „oder «uS Personen, die der Politik der Reichstagsmehrheit entsprechen". Außerdem ist zu beachten, >aß dieses Programm gegen beträchtliche Oppositionsminderheiten, namentlich im Partei- «»Ssch»b, angenommen wurde.