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Reichstag und Verfassung
einschätzen, als es ohnehin in der öffentlichen Meinung schon geschieht. Es ist außerdem eine Tatsache, daß vielfach gerade solche Mitglieder am seltensten im Reichstag erscheinen, die finanziell vollkommen unabhängig dastehn. Tcicitus erwähnt schon in seiner Germania, daß die Einzelnen so unpünktlich bei der Volksversammlung erscheinen, und dieser althergebrachte Zug im deutschen Wesen scheint die heutigen Zustände im Reichstag ausreichender zu erklären als alle Ausführungen von liberaler Seite über den Mangel an Diäten.
Man kommt damit nur immer wieder auf eine alte liberale Forderung zurück, die aber schon im Norddeutschen Reichstag abgelehnt worden ist, allerdings nur auf bestimmtes Verlangen der Negierungen. Aber auch der liberale Antrag auf Gewährung von Diäten war vorher nur mit der geringen Mehrheit von sechs Stimmen angenommen worden, und der Abgeordnete Graf von der Schulenburg hatte in der Debatte darauf hingewiesen, daß „solche Anträge gerade von derjenigen Seite ausgehn, die ja doch immer die Opferbereitschaft für sich allein in Anspruch nimmt." Inzwischen hat der Reichstag allerdings mit zunehmenden Mehrheiten die Forderung auf Diäten wiederholt gestellt, der Bundesrat ist aber auf diese Verfassungsänderung bisher nicht eingegangen. Fürst Bismarck erklärte am 26. November 1884 im Reichstage, der Grund, warum er Diäten bekämpfe, liege mehr darin, daß „sie weit entfernt sind, eine Gleichheit herzustellen, weil sie erst recht eine Ungleichheit unter dem Schein der Gleichheit schaffen," und führte dann weiter aus: „Ist es denn überhaupt in unserm Deutschen Reich und im preußischen Staat so unerhört, daß jemand gratis etwas leisten muß, ohne Diäten dafür zu bezieh»?" Er wies auf die Geschwornen und die unbesoldeten Ehrenämter der Provinzial^ Verwaltung hin. „Das sind ungeheure Aufgaben, während hier die meisten Herren, die nicht gerade Referate übernehmen, doch ein sorgenfreies Leben, otwm eum cliZmwte genießen. . . . Was ich hier vertrete, ist ausschließlich die Reichsverfassung und ihre Giltigkeit. Es ist schon mehrfach erwähnt, daß die Verfassung in diesem Punkte kvmpromißmüßig zustande gekommen ist, und daß die Tatenlosigkeit ein Äquivalent für die weit ausgedehnte Wahlbefugnis, die unser Wahlgesetz verleiht, geben sollte. Inwieweit das erreicht wird, das ist eine andre Frage, über die ich hier nicht zu entscheiden habe; es ist eine Frage der Erfahrung. Tatsache ist, daß die Verhandlungen über die Verfassung die Veabsichtigung des Äquivalents ergeben. Nun sind Sie seit Jahren bemüht, einen von den Steinen, aus deuen das Gewölbe der Verfassung künstlich und nicht ohne Mühe gefügt ist, herauszukratzen aus der Wand. Sind Sie sicher, daß nichts nachfällt?" Bismarck stellte sich somit durchaus aus den Standpunkt der Verfassung, die in diesem Punkte nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommen sei; denn gerade die Versagung der Diäten und die Sicherung der Armeeorganisation waren die beiden Fragen, von denen die Bundeskommissarien die endliche Entscheidung über das Zustandekommen der Verfassung abhängig machten. Die Angelegenheit der Diäten ist somit durchaus nicht eine der wenig in Betracht kommenden Bestimmungen der Reichsverfassung, und es ist, entgegen der in den Blättern vielfach auftauchenden Versicherung, unzweifelhaft anzunehmen, daß in Bundesrcitskreiseu noch eine ausgedehnte