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Reichstag und Verfassung
stark gesunken ist, so läßt sich dies nur zum Teil dadurch erklären, daß die hohe geistige Spannkraft des deutschen Volks während der Werdezeit des Reichs natürlich nachgelassen hat, wovon auch seine Vertretung nicht ausgeschlossen bleiben konnte. Trotzdem brauchte der Reichstag nicht zu dem heutigen Zerrbild zu werden, bei dem namentlich die verfassungsmäßige Öffentlichkeit ihrer segensvollen Wirksamkeit entkleidet worden ist. In geheimen Fraktionsbeschlüssen wird vorher alles abgemacht, und in der Regel ist die Wirkung der öffentlichen Rede danach nur noch bloßer Schein, denn die Reden werden nicht etwa, wie der fernstehende Bürger und Wähler das anzunehmen pflegt, zur Überzeugung oder Versöhnung gehalten, sondern bloß noch zu dem Zwecke, daß sie in die Berichte kommen. Das hat sich immer mehr ausgebildet, je mehr sich die Fraktionen auf ihren Standpunkt verhärtet haben. Fürst Bismarck hat sich vielfach über dieses den Parlamentarismus beeinträchtigende Übel ausgesprochen, er machte schon im Norddeutscheu Reichstag am 21. Mai 1869 warnend darauf aufmerksam und kämpfte besonders in den achtziger Jahren dagegen an, wohl am schärfsten in der Reichstagssitzung am 9. Mai 1884, in der er sagte: „Sobald es der Parteipolitik, der Fraktionspvlitik nicht paßt, so können die Interessen zugrunde gehn, und es kann darüber ausgepfändet werden oder Hungers sterben, wer will — das ist der Fraktion als solcher vollständig gleich- giltig; sie fragt nur: Was nützt es meiner Fraktion? Vivat tractio, psroat innncws!" Und am 26. Juni desselben Jahres sagte er: „Es hat das ja auch seine zwei Seiten, wie alle Sachen; aber ich finde die eine Seite bei uns, die Seite der Fraktionspolitik, in steigender Progression so accentuiert, daß die Gesamtheit schließlich nicht mehr zu ihrem Recht kommt, und die Existenz der Fraktionen an und für sich ein an dem Wohl des Vaterlandes fressendes Übel ist." Über die eigentliche Ertötung des parlamentarischen Lebens durch die Fraktionspolitik äußerte er sich am 1. Dezember 1884 folgendermaßen: „Ich kann hier überhaupt nicht die Absicht haben, jemand zu meiner Meinung und der der Regierung zu überreden, ich würde es nicht wagen, in dieser Beziehung den Fraktionsbeschlüssen vorgreifen zu wollen, die uns nachher mit Macht, ich möchte sagen felsenartig, entgegentreten in Form der kurzen Mitteilung: »Die Fraktion hat beschlossen« — damit ist die Sache abgetan. Wir sind dann ja hier vollständig überflüssig; was können wir gegen den Fels der Fraktionsbeschlüsse anders, als wie kraftlose Wellen abprallen? Das ist kaum würdig. Wozu die Diskussion? Zählen wir ab und ohne Diskussion; wozu sollen wir dem Lande noch unsre Zeit vergeuden?" Und noch in seiner letzten Rede im Reichstage, am 18. Mai 1889, kam er auf das Fraktionswesen zurück und sagte: „Die Herren wissen ja alle schon heute, wofür sie stimmen wollen, und alles, was hier an Beredsamkeit ausgetauscht wird, selbst das, was an anscheinender Bitterkeit und Feindschaft ausgetauscht wird, ist doch für andre Gegenden berechnet und nicht für den Einfluß auf irgend jemanden, der hier in diesem Hause stimmberechtigt ist." Man kann das hohle Schauspiel, zu dem heute die sogenannten Debatten im Reichstage geworden sind, in höflichen Worten gar nicht bezeichnender charakterisieren. Und es ist in dem halben Menschenalter, seitdem diese Worte gesprochen worden sind, nicht besser geworden.