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Reichstag und Verfassung :
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Reichstag und Verfassung

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Weise galt, dm Anfängen zu wehren. Das hat man in diesem Falle versäumt, und heute ist gegen das Übel nichts mehr zu machen. Daß es dem Hause zu­gestände» hätte, den Artikel 11 der Verfassung gegen eine solche Verunglimpfung zu wahren, liegt an und für sich auf der Hand, geht aber auch aus der Ana­logie mit der Behandlung der polnischen Abgeordneten hervor, die jedesmal mit ihren Demonstrationen gegen die Reichsverfassung zurückgewiesen worden sind. , Wäre der Reichstag gegen die republikanischen Demonstrationen der Sozialdemokraten ebenso aufgetreten, so säßen sicher weniger Abgeordnete dieser Partei im Reichstage, denn im deutschen Volke Ware es nicht ohne Eindruck geblieben, wenn der Reichstag die Praxis eingeführt hätte, ihr Verhalten als verfassungswidrig zu bezeichnen. Nur der Abgeordnete Freiherr von Stumm hat mehrfach den sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag einen Spiegel ihres Verhaltens vorgehalten, das Haus als solches hat nie Stellung dazu genommen. Ob es klug war, gegen den klaren Sinn der Verfassung auf diese Weise verstoßen zu lassen, wird erst die Zukunft lehren. Es hat nicht den Anschein, als würde die sozialdemokratische Partei noch bedeutend zunehmen, aber es könnte doch sein, und jedenfalls kann schon der heutige Zustand Zwischenfälle hervorrufen, wo sich der Bundesrat genötigt sähe, zum Schutze des Artikels 11 Stellung zu nehmen. Bisher ist noch jeder solche Konflikt vermieden worden, ausgeschlossen ist er aber nicht. Vorläufig liegen nun die Verhältnisse tatsächlich so, daß der Reichstag an zahlreichen Sitzungstagen weiter nichts als eine günstige Gelegenheit für die Sozialdemokraten ist, von dieser gesetzlich bevorzugten und geschützten Stelle aus Agitationsreden zum Fenster hinaus zu halten, die dann von den sozialdemokratischen Zeitungen eifrig verbreitet werden, und da dies häufig und in großem Umfange geschieht, nrteilslosen Leuten draußen als Meinung des Reichstags erscheinen mögen. Bei der in allerhand Parteien zerklüfteten Masse des Bürgertums braucht man sich daun freilich nicht zu Wundern, wenn bisher die Sozialdemokraten bei jeder Wahl zugenommen haben, da ihnen die Agitation so gratis geliefert wird. Bisher sind sie auch mit deu Zuständen im Reichstag, unter den Parteien und in der Wühlerschaft, die ihnen Wahlerfolg ans Wahlerfolg bringen, sehr zu­frieden, sie denken nicht daran, einen Konflikt heraufzubeschwören, wenn auch zu­weilen in ihren Agitatiousreden dergroße Kladderadatsch" mit Rücksicht auf die Stimmung gewisser Wühlerschichten wieder in Aussicht gestellt wird.

Was war der Reichstag ehedem in der Vorstellung der Nation wie in der Absicht seines Schöpfers, des Fürsten Bismarck, der sich öfter darüber aus­gesprochen hat, und was ist er heute? Der Satz des weisen Chilvn von Sparta: Der Staat befindet sich am besten, wo die Gesetze am meisten und die Redner nm wenigsten Gehör finden," scheint in sein Gegenteil verkehrt worden oder wenigstens in Vergessenheit geraten zn sein. Die Berufsparlamentarier, die in der Förderung des rein parlamentarischen Treibens ihr eigentliches Element sehen und darin, zun: Teil auch davon leben, herrschen vor, und je mehr sie zugenommen haben, um so mehr ist die subjektive Schaffensfreude wie die sach­liche Leistungsfähigkeit des Reichstags besonders seit den siebziger Jahren zurückgegangen. Wenn die geistige Höhe der endlos breiten Verhandlungen