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Reichstag und Verfassung
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Reichstag und Verfassung

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auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, ans die Schärfung des Urteils durch die Schule." Es sind seitdem über siebzehn Jahre ins Land gegangen, und die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, eher hat es den Anschein, als ob es noch schlimmer geworden sei. Der Fehler liegt aber gar nicht am Wahlrecht, sondern an der Art, wie das Wählen in Szene gesetzt wird, also doch eigentlich an den Wählern selbst. Ihre Mehrzahl ist sich gar nicht klar darüber, welche Bedeutung jeder Wahlausfall haben kann, welches Recht und welche Pflicht dabei dem einzelnen Bürger zukommt, die meisten scheinen der Meinung zu sein, es handle sich darum, für oder gegen die Regierung zu stimmen, und wählen deshalb, wenn sie gerade unzufrieden sind, oppositionell, womöglich sozialdemo­kratisch. Das hat aber in Deutschland gar keinen Zweck, weil man damit eine Regierung nicht stürzen kann. Wir haben nicht die parlamentarische Staatsform wie in Frankreich, von der Ludwig der Achtzehnte, das gepriesene Muster eines streng verfassungsmäßigen Herrschers, zu sagen pflegte:Nichts ist leichter für mich, als verfassungsmüßig zu regieren. Ich frage meine Minister: Haben Sie die Mehrheit in der Kammer? Sagen Sie ja, so gehe ich spazieren, sagen Sie nein, so schicke ich Sie spazieren." Das ist allerdings eine sehr einfache Regierungsweise, die freilich dahin geführt hat, daß die beiden Nachfolger des Königs auch spazieren geschickt wurden. Hätte König Wilhelm von Preußen so regieren wollen, so hätte Deutschland nie einen Bismarck gehabt, der wäre sofort gestürzt worden und als bescheidner Minister a. D. gestorben. Vielleicht säße aber jetzt noch der Bundestag in der Eschenheimer Gasse in Frankfurt, oder Kaiser Franz Joseph Hütte seinen Gedanken von 1863, das Habsburgische Kaisertum in Deutschland wieder aufzurichten, doch durchgesetzt, andrer politischer Möglichkeiten gar nicht zu gedenken; unzweifelhaft Hütten wir aber nicht das heutige Deutsche Reich, das über ein Menschenalter allen äußern und innern Gefahren in sicherer Festigkeit widerstanden hat.

So einfach wie unter den französischenkonstitutionellen" Königen, deren Negierungsweise ihr Land immer wieder der Revolution zuführte, regiert es sich eben in Deutschcmd nicht, man kann es auch nicht wie in England machen, wo einfach die vorhandne Mehrheit abgezählt und danach die Regierung ge­bildet wird. Das kann sich dieses Jnselreich erlauben, dem es in seiner natür­lichen Festung beinahe gleichgiltig sein kann, ob es mit der halben Welt be­freundet oder mit der ganzen verfeindet ist, ob es zeitweilig seine Landmacht verfallen lassen und seine Flotte vernachlässigen will, weil es das Versäumte mit Geldopfern bisher immer wieder einzuholen vermocht hat. Das darf sich Deutschland bei seiner Lage in der Mitte Europas alles nicht erlauben, es muß, um Frieden zu haben und ihn vor allem dem Weltteil zu erhalten, seine Wehrmacht zu Wasser und zu Lande ununterbrochen auf ihrer gebietenden Höhe erhalten, es muß sich bestreben, womöglich mit allen seinen Nachbarn in einem freundschaftlichen Verhältnis zu stehn, und darf sie nicht nach den mit den Weltereignissen wechselnden Tagesmeinungen, die auch die parlamentarische Mehrheit für sich zu haben Pflegen, durch unfreundliche Maßnahmen reizen. So durfte sich Preußen 1863 nicht den aufrührerischen Polen zuliebe und 1886 Deutschland nicht wegen des Battenbergers mit Rußland überwerfen, Grenzöoten I 1905 S4