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Reichstag und Verfassung
Gerade die Gebildeten unsers Volks wissen, zum Teil noch aus persönlichen Erinnerungen, zum Teil aus der Geschichte, welche Anstrengungen es gekostet hat, so weit zu gelangen, und welche Zweifel damals auf wohlwollender wie auf bösgesinnter Seite gehegt wurden, ob die Sache auch wirklich Bestand haben werde. Die Verfassung hat alle Zweifel zunichte gemacht und hat nuu fast vier Jahrzehnte Probe gehalten. Nur mit wehmütigem Stolz kann man ans diese erste, verheißungsvolle Zeit des deutschen Parlamentarismus zurücksehen. Im voraus von der liberalen Tagespresse verspottet und verdächtigt, von dem kurz vorher anscheinend so übermächtigen preußischen Abgeordnetenhause als Nebenbuhler beargwöhnt, war der konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes immerhin ein Experiment, auch für seinen politischen Urheber, den Grafen Otto von Bismarck, als erste parlamentarische Versammlung in Deutschland, die ans allgemeinen direkten Wahlen hervorgegangen war. Was vorher an parlamentarischen Einrichtungen in Deutschland bestanden hatte, war nicht viel mehr als eine Nachahmung der französisch-belgischen Schablone, die in einigen Mittel- nnd Kleinstaaten zu leidlich befriedigenden Zuständen gedieheil war, iu Preußen aber kaum ein Jahrzehnt nach der Einführung zu dem bekannten tiefen Konflikt geführt hatte, dessen bedenkliche Folgen für die gesamte innere politische Entwicklung nur durch die gewaltsame Lösung der deutschen Frage im Jahre 1866 abgewaudt wurden. Die Augen des Volks waren aber durch die großen Ereignisse plötzlich hell geworden. Noch bevor ein Schnß in Böhmen gefallen war, als die Armee jedoch schon bereit stand, hatte die liberale Partei bei den Wahlen für das preußische Abgeordnetenhaus eine große Niederlage erlitten; eine noch größere widerfuhr ihr bei deu Wcchleu zum konstituierenden Reichstag, ganze Provinzen im Osten und im Westen, die bisher ein Hort des Liberalismus zu sein schienen, hatten regierungsfreundlich gewählt, alle Parteien hatten ihre Berühmtheiten in die nene Versammlung entsandt, es waren auch schon zwei Sozialdemokraten darunter, die bekannten Bebel und Schraps. Wie haben sich inzwischen die Zeiten geändert! Aber die damaligen Wahlergebnisse lassen nicht an der Überzeugung irre werden, daß bei großen Ereignissen das deutsche Volk seiueu gesunden Sinn wiederfinden und einen den Verhältnissen gewachsnen Reichstag wählen wird; schon die Scptennats- wahl des Jahres 1887 hat den Beweis dafür geliefert. Es muß sein freies Wahlrecht, so frei und ungehindert wie in keinem Lande der Welt, erst gebrauchen lernen, und es wird es auch zur Zeit gebraucheu.
„Eins der vorzüglichsten Erfordernisse in der praktischen Führung von Staatsaugelegeuheiten, zumal wo freie Einrichtungen bcstehn, ist Versöhnlichkeit: eine Bereitwilligkeit zum Vergleich, die Geneigtheit, dem Gegner einige Zugeständnisse zu machen und nützliche Maßregeln so zu gestalten, daß sie Männern von entgegengesetzten Ansichten so wenig verletzend als irgend möglich entgegentreten," hatte der englische Staatsrechtslehrer John Stuart Mill schon vor einem Jahrzehnt geschrieben, und der neue Kauzler des Norddeutschen Bundes Graf Bismarck hatte schon am 24. Januar 1865 im preußischen Herrenhause diesen richtigen Gedanken in den kurzen Satz zusammengefaßt: „Die Basis des konstitutionellen Lebensprozesses ist überall der Kompromiß." Wie viel auch