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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

müsse, für immer ausgeschlossen sei. Die Bildung parlamentarischer Ministerien in Preußen sei damit endgiltig unmöglich, dem bleibenden Staatsinteresse dagegen seine Stellung über dem wechselnden Parteiinteresse dauernd angewiesen.

Soweit die damalige amtliche Auffassung. Es ist nicht ohne Interesse, die gegenteilige der Parteien kennen zu lernen: dieFortschrittliche Korrespondenz" sah mit Bedauern die Aussicht zerstört, zu der es in Bälde hätte kommen müssen,, daß bei einem Zwiespalt zwischen der Volksvertretung und der Regierung in Preußen letztere hätte nachgeben müssen, und die Minister Männern Platz machen, welche das Vertrauen der Volksvertretung besaßen." Die Neichsbeamten als solche hätten mit der preußischen Volksvertretung nichts zu tuu, hierin liege ein außer­ordentlicher Rückschritt des konstitutionellen Lebens. Tatsächlich scheint also jene Maßnahme ein Schuß ins Schwarze gewesen zu sein nnd eine der unsterblichen Illusionen der damaligen Fortschrittspartei, mit denen sie sich namentlich an Hoffnungen auf einen Thronwechsel anklammerte, schwer getroffen zn haben. Dem preußischen Abgeordnetenhause waren die beiden Ernennungen von dem Präsi­denten des Staatsministeriuins amtlich mitgeteilt worden; ihre Vorlesung in der Sitzung vom 23. Juni führte zu einer sehr lebhaften Debatte, die mit der Ver­weisung des Schreibens des Ministerpräsidenten an die Justizkommission endete. In dieser vertraten Windthorst, Hcinel und Virchow gemeinsam einen ablehnenden Standpunkt.

Windthorst erklärte, der Vorgang treffe den Lebensnerv des konstitutionellen Prinzips und schaffe einen Zustand, der nicht andauern könne; er verhindre die Bildung eines homogenen Ministeriums, widerspreche, wenn nicht dem Buchflaben, so doch dem Geiste der Verfassung und verhindere die Entwicklung des konstitutio­nellenSystems." Er verlange die Vorlegung eines Ministerverantwortlichkeits­gesetzes. Hcinel schloß sich namens der Fortschrittspartei dem an. Es handle sich um eine der wichtigsten Verfassungsfragen, es sei bedenklich, die Bureauvorstände (!) des Reichskanzlers zugleich zu selbständigen preußischen Staatsministern zu machen. Die Blüte der unsinnigen Beurteilung förderte Herr Virchow zutage.Was Deutsch­land für Nutzen davon haben soll, daß der Reichskanzler durch zwei Minister ohne Portefeuille später vielleicht durch zehn die Majorität im preußischen Ministerium hat, ist mir unerfindlich. Sollte ein reichsfeindliches Ministerium in Preußen am Nuder sein, so müßte der Reichskanzler die Beibehaltung seines Porte­feuilles von der Entlassung eines solchen Ministeriums abhängig machen. Anstatt dessen bekommen wir untergeordnete Beamte des Reichskanzleramts zu preußischen Ministern. Es wäre vielleicht im Interesse der Nationalentwicklung wünschenswert, wenn der König von Bayern die beiden Herren in sein Ministerium beriefe (!). Und nun möchte ich doch auch die Frage aufwerfen: sind denn in der Tat gerade die Personen, die man uns in das Ministerium geschickt hat, solche, von denen die deutsche Nation ihre Wiedergeburt und Weiterentwicklung zu erwarten hat? Hatten wir in Preußen kein Material, das sich den Herren Bülow und Hofmann an die Seite stellen ließe? Müssen wir wirklich bei den Beamten des Neichskanzleramts betteln gehn, um uns die Hilfe zu suchen, durch die unser Ministerium auf die richtigen Wege gebracht wird? .. ." In dieser Tonart ging es gegenüber den Ausführungen des Ministers Camphausen und des Abgeordneten Gneist noch lange weiter, die ganze Rede spiegelt die unglaubliche politische Kurzsichtigkeit wieder, deren Virchow fähig war. Damals war bekanntlich die Fortschrittspartei, heute die freisinnige Partei, mit der preußischen Wahleinrichtnng, die ihr fünf Jahre lang eine beherrschende Stellung gegeben hatte, sehr zufrieden und wollte von dem Wahlrecht der Bundes- und Reichsverfassung, und damit von dieser selbst, nichts wissen, weil sie sich gegen die fortschrittliche Gewaltherrschaft richtete und diese siegreich durchbrach. Damals waren also Zentrum und Fortschrittspartei und Parteiinteresse ebenso partikularistisch, wie sie heute aus Parteiinteresse unitarisch