Deutschösterreichische Parteien
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Seitdem ist der „Kampf um Wien" der Angelpunkt aller innerösterreichischen Parteikämpfe geworden und geblieben, mag man auch zu den verschiedensten Zeiten die mannigfaltigsten Gründe und „Prinzipien" vorschieben, sodaß dem Nichteingeweihten, dem der rote Faden nicht sichtbar ist, vor all den slawischen und deutschparteilichen Streitereien und Beschuldigungen ganz wirr im Kopf werden muß, da er vor allen Dingen nicht begreifen kann, warum die Deutschösterreicher nicht zusammenhalten. Ja, wie sollen sie denn das, solange die letzten Reste der „großen liberalen Partei" die Herrschaft in Wien wieder haben wollen und zu diesem Zwecke den noch immer zu ihrer Verfügung stehenden großen Preßbann aufbieten, um die deutschen Christlichsozialen, wenn auch vorläufig noch nicht zu vernichten, so doch wenigstens auf das herbste zu schmähen, ihnen auf alle Weise Abbruch zu tun, die andern deutschen Parteien gegen sie aufzureizen und sich selbst auf das engste mit den Sozialdemokraten zu verbünden, auf deren siegreichen Schultern man allein wieder auf die Herrschaftssitze in Wien getragen werden kann. Daher kam schon die Freundschaft mit den Sozialdemokraten und ihre kräftige Unterstützung durch die liberale Presse bei den Reichsratswahlen im Mürz 1897 wie auch bei allen spätem Wahlen. Im Auslande ist man über den eigentlichen Charakter dieser innern Kämpfe in Österreich nur ungenügend unterrichtet, wie man ja auch vor zwanzig Jahren nicht unterrichtet war, als Bismarck sein Urteil über die „Herbstzeitlosen" sprach. Damals wie heute schöpfte die ausländische Presse, namentlich die deutsche, auch wenn es durch besondre Berichterstatter geschieht, aus den in Wien noch immer herrschenden liberalen Blättern, zu denen sich auch die deutschfortschrittliche Partei nicht immer bekennen mag, und in Deutschland hat die denselben Standpunkt vertretende liberale Presse auch eine weit ausgedehntere Verbreitung, als der Anzahl liberaler Wähler und Abgeordneten entspricht. Man braucht nun für den Wiener Bürgermeister und seine Christlichsozialen wahrlich nichts übrig zu haben, aber man darf sich nicht der Erkenntnis verschließen, daß er mit ihnen den Kristallisations- Punkt gebildet hat, um den sich alle antirevolutionären Elemente gruppieren, wodurch Zustäude und Ansichten von der städtischen Verwaltung Wiens ferngehalten werden, wie sie derzeit in Berlin unter der freisinnig-sozialdemokratischen Herrschaft im roten Hause bestehn und schon mehrfach die Negierung veranlaßt haben, von ihrem Oberaufsichtsrechte Gebrauch zu machen.
Bevor am 27. Mürz 1897 der ueugewühlte Reichsrat eröffnet wurde, war der bisherige Bürgermeister von Wien, Strobach, der Platzhalter für Dr. Lueger, wahrscheinlich auf indirekte Veranlassung Badems, der wegen der bevorstehenden Mehrheitsbildnng im Reichsrat damit ein Druckmittel auf die deutsche Fortschrittspartei erlangen wollte, zurückgetreten. Der feudale Großgrundbesitz wollte in keine Mehrheit ohne die katholische Volkspartei, der verfassungstreue in keine mit dieser Partei eintreten. Hinter dem Rücken des Ministerpräsidenten schlössen sich der feudale Großgrundbesitz, der Polenklub, die Jungtschechen und die katholische Volkspartei zum gemeinsamen Vorgehn zusammen, worauf sich Badem für die tschecheufreundliche Fassung der Sprachenverordnung entschied, und der Justizministcr Graf Gleispach deshalb seine