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Maßgebliches und Unmaßgebliches
um die Rente" fast die Hauptsache geworden ist. Hier harren wir noch des großen sozialen Reformators, der die Bismarckische Idee, „daß die Bernfsgenossenschaft der moderne, zeitgemäße Ersatz für die alten Zünfte sein solle," verwirklicht. Damit würden wir dann auch zu der „Gleichberechtigung" kommen, die so vielen Sozialpolitikern vorschwebt, die aber bisher auf unrichtigem Wege gesucht und augestrebt worden ist. Man hat Feigen vom Weinstock verlangt. Die Gleichberechtigung darf nicht eine politische, sondern sie muß eine industrielle, auf dem Boden der Arbeits- und der Interessengemeinschaft sei». Sollte mau dafür die gesetzlichen Formeln nicht finden können? Sollte sich der fruchtbare Gebaute nicht zu einem lebenskräftigen Baume entwickeln lassen? Lohnfragen und andre Streitigkeiten werden auch damit nicht ausgeschlossen sein, sie liegen in der menschlichen Natur begründet und sind Folgen der wirtschaftlichen Konjunkturen, Tenerungs- verhä'ltnisse usw.; ebenso werden Änderungen der Betriebsweise, zum Beispiel auf Grund neuer Erfindungen, auch zu Änderungen der Arbeitsordnungen führen, aber alle solche Vorgänge könnten und sollten ohne Erschütterungen und Krisen auf dein Boden der Interessengemeinschaft ausgetragen werden.
Die Bedingung dazu wird freilich immer sein die Beseitigung der Organisationen für den sozialen Krieg, wie wir sie namentlich in den Berufsvereinen haben. Nicht Berufsvereine, sondern Berufsgenosscnschaften im erweiterten und gehobnen Sinne. Denn Unternehmer und Arbeiter sind Genossen in der besten Bedeutung des Wortes, Genossen bei der gemeinsamen Arbeit, ebenso wie Offiziere und Soldaten da, wo es auf das Einsetzen des vollen Manneswertes ankommt, im besten Sinne des Wortes Kameraden sind. Auch für die Arbeit gibt es das Band der Pflicht und der Ehre, aber die Ehre ist von der Pflicht unzertrennlich und kann nur da vorhanden sein, wo die Pflicht hochgehalten wird. In dankenswertester Weise hat der Reichskanzer in seiner Rede vom 20. Januar den Finger auf die Wunde gelegt und vor dem ganzen Lande klar und deutlich ausgesprochen, was uns not tut: Emanzipation der organisierten Arbeiterschaft von der Parteipolitik! Von einer Parteipolitik, die wohl die Massen aufzubieten, aber nicht sie zu zügeln und vor schwerem wirtschaftlichen! Schaden zu bewahren versteht. Es ist von außerordentlichem Werte, daß die Regierung durch deu Mund ihres berufensten Vertreters ihre Stellung zu diesen Fragen festgelegt und aufgeklärt hat. Wir kranken an dem Mißbrauch, den die Sozialdemokratie mit dem arbeitenden Volk und mit seinen Interessen treibt. Die Ausbeutung auch des blutigsten Arbeitgebers reicht noch lange nicht an die Ausbeutung heran, die sich die Sozialdemokratie an der deutschen Arbeiterwelt herausnimmt. Um so weniger wird der Staat in Zukunft noch Organisationen zustimmen oder schaffen können, die wie alles, was bisher auf diesem Gebiete geschaffen worden ist, unaufhaltsam in den Dienst der Sozialdemokratie Übergehn. Der Staat soll für die Arbeiter eintreten und dadurch für sie sorgen, daß er sie mit den Unternehmern durch feste Bande der Interessengemeinschaft zusammenschmiedet, die Unternehmer werden da mit ihrem vollen Entgegenkommen nicht kargen und nicht zurückhalten dürfen. Er muß die Emanzipation der Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie, von allen parteipolitischen Bestrebungen fest in die Hand nehmen. Sollte es nicht möglich sein, die gesetzgeberische Vorbereitung einer größern Kommission von Persönlichkeiten anzuvertrauen, die auf sozialpolitischem Gebiet berufen und erfahren sind? Wir müssen aus diesem innern Kriege heraus, und Graf Bülow würde sich ein unsterbliches Verdienst erwerben, wenn er auf dem von ihm selbst angedeuteten Wege fest und entschlossen die Führerschaft übernähme. Die Saat ist reif, ihr Schnitter zaudert nicht! *z*
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Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig