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Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland
unterhält ein Heer von einer Million Soldaten und läßt sich von den Türken demütigen, weil man sich scheut, das Prinzip der Legitimität anzutasten. Sieht man denn nicht die Gefahren, die uns von der Vermehrung der Sekten, von der Auflösung aller sittlichen Bande, von der Herabsetzung alles dessen drohen, was noch Gewicht und Bedeutung in den Augen der Menschen hatte? Die Justiz wird durch allerlei Verfügungen gelähmt, die den Charakter von Gesetzen tragen und doch, da sie von jakobinischem Geiste durchtränkt sind, allgemeine Erbitterung erregt haben. Es ist schwer, alle diese Unzuträglichkeiten zu erklären, man kann sie nur verstehn, wenn man annimmt, daß sie den Absonderlichkeiten des Charakters Alexanders des Ersten entsprungen sind.« Diese russische Wirklichkeit, wie sie in den wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Verhältnissen als ein Gegebnes vorlag, stemmte sich den idealen Plänen entgegen, die Alexander in raschem Anlauf durchzuführen dachte, und festigte ihn je länger desto mehr in der Überzeugung, daß es unmöglich sei, mit andern Mitteln als denen des Despotismus sein Volk zu einer bestem Zukunft zu erziehn. So zeigt uns das Rußland Alexanders des Ersten die eigentümliche Erscheinung eines Staats, der von einem liberalen Idealisten durch einen harten und argwöhnischen Despotismus zu freiheitlichen Institutionen und humaner Lebensführung erzogen lverden soll. Während aber jene liberalen Reformen, die bestimmt waren, in eine Verfassung für Rußland auszumünden, nach den ersten sanguinischen Anläufen ins Stocken geraten und nicht über das Stadium immer neuer Entwürfe hinaus gedeihen, bleiben die alten Schäden lebendig, neue treten hinzu, und das schließliche Ergebnis zeigt uns ein Bild ratloser Verwirrung, völligen Mißregiments uud kaum erträglichen despotischen Druckes."
Dreimal (ohne Finnland einzurechnen) haben sich die Verfassungsplüne Alexanders bestimmt gestaltet: zweimal für Rußland, 1809 und 1819 bis 1821, sodann einmal, 1816, für Polen, und für dieses wehrlose, unterwvrfne Land sind sie auch ins Leben getreten, während das herrschende russische Volk nicht einmal eine Probekost erhielt. Der Spercmskische Entwurf von 1809 trügt das Zeichen seines Urhebers deutlich an der Stirn. Er war ein kühner schematisierender Geist, der wie das ganze Zeitalter der französischen Aufklärung weit mehr auf innere Logik und rationelle Gliederung gab als auf die Anknüpfung an altüberkommnc Formen. Das wäre freilich für Rußland ein schwieriges Kunstwerk gewesen, da solche Formen eben nicht vorhanden waren. Spercmski stellte an die Spitze des für Rußland ersonnenen konstitutionellen Schemas „die unumschränkte Macht des Kaisers" und hob damit das eigentliche Wesen der Verfassung, nämlich die Beschränkung der monarchischen Gewalt durch die Rechte der Volksvertretung, wieder auf. Es mag aber an ein Mehr für damalige Zeit nicht zu denken gewesen sein. Unter dem Monarchen stand zunächst der Reichsrat, ein Kollegium, das aus den Ministern im Amt, ehemaligen Ministern und andern Leuten, die kraft ihres Amtes oder kraft kaiserlicher Berufung dazu gehörten, bestand. Dann wurde der Organismus ganz rationell zerlegt in die Verwaltung, die Gesetzgebung und die Justiz. Jeder dieser Zweige wurde von oben nach unten gegliedert: die Ministerien, der Reichstag und der Justizsenat galten für den ganzen Staat, die Gouvernements-