Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Ruszland
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Freundeskreise gedrängt und in seinen Illusionen genährt, dachte an seinem Krönungstage seinem Volke die erwähnte Habeascorpus - Akte zu verleihen. Ihre Hauptbestimmungen sollten dahin gehn: 1. Ehe ein Richterspruch erfolgt ist, soll jeder Beklagte in seinen Rechten unverkürzt bleiben; 2. Wer vor Gericht gestellt wird, darf sich seinen Verteidiger wählen und sowohl in Zivil- wie in Kriminalsachen auf gesetzlicher Grundlage seine Richter ablehnen; 3. Wer drei Tage nach seiner Verhaftung nicht verhört worden ist, darf seine sofortige Freilassung von der nächst vorgesetzten Obrigkeit fordern; 4. Als Majestätsbeleidigung sollen nur Taten, nicht mündliche oder schriftliche Äußerungen bestraft werden; 5. Wer einmal vom Gericht freigesprochen worden ist, darf wegen derselben Sache nicht nochmals vor Gericht gezogen werden; 6. Klagen von Privatpersonen gegen die Regierung sollen nach dem geltenden Gerichtsverfahren genau auf gleicher Grundlage behandelt werden wie andre Klagen; 7. Keine Abgaben und Steuern sollen anders als durch einen namentlichen Ukas, den der Senat zu veröffentlichen hat, eingeführt werden.
Der schöne Gedanke ist nie verwirklicht worden, und es ist deshalb auch nicht notwendig, zu zeigen, wie viel noch mangelhast an ihm war, wie zum Beispiel von der Verbürgung der persönlichen Freiheit wie auch von einer Volksvertretung noch nichts vorgesehen war. Und wenn wirklich solches dekretiert wäre: der Fortbestand der Geheimpolizei, das fortgesetzte Zutodeknuten zahlreicher Personen unter Alexanders Regierung trotz feierlicher Aufhebung der Tortur zeigt, daß die sich auf dem Papier schön ausnehmenden Dinge nur schwer zur Wirklichkeit gemacht werden konnten. Wer weiß nicht, daß die Verschickung im Verwaltungswege nach den Eisregionen Sibiriens und neuerdings Nordrußlands noch heute fortdauert?
Nicht der Kulturzustand des Landes allein stand mit den Beglückungsplänen in Widerspruch. Alexander litt selber an einer tiefen Zwiespältigkeit. Neben der wegen des Todes des Vaters zerknirschten Seele lebte in seiner Brust die andre, die sich von der Allmacht des unumschränkten Monarchen nicht trennen konnte, vielmehr in ihr gerade das wichtigste Werkzeug der Volksbeglückung sah. Sein vertrauter Freund Adam Czartoryski schrieb: „Der Kaiser liebte die Freiheit, wie man ein Schaustück liebt; er gefiel sich beim Anblick des Scheins einer freiheitlichen Regierung, weil das seiner Eitelkeit schmeichelte; mehr aber als die Form und den Schein wollte er nicht, und er war keineswegs gesinnt, zu dulden, daß sie sich in Wirklichkeit umsetzten; kurz, er wäre gern darauf eingegangen, daß jedermann frei sei, wenn nur alles freiwillig ihm den Willen täte." Er hatte einigen Grund, seinem Volke zu mißtrauen. Wo waren die Schichten, an die man sich für eine populäre Führung zunächst hätte wenden müssen? Die Gesellschaftskreise, die, weil sie von Nahrungssorgen befreit waren, in uneigennütziger Fürsorge für die Gesamtheit aufgehu konnten? Man konnte sie nicht entdecken; Alexander wußte, daß sich alle Kreise, auch die des höchst gestellten Adels und Beamtentums, widerrechtlich bereicherten. Er sah auf den höchsten Posten Leute, die er eigentlich „nicht als Lakaien" haben mochte. Die Korruption hatte alles verdorben. Aber er sah sich machtlos. Denn er mußte sich sagen, daß er, wenn er die einen verdrängte, nur noch