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Eine Silvesterbetrachtmig
zu verlangen, die uns der Krieg jetzt kostet; sie würe mit Hohn abgewiesen worden. Und warum hat denn im Reichstage, der jetzt von kritischer Weisheit überströmen wird, nicht einmal jemand viel früher schon auf die Schwäche unsrer dortigeu Streitkräfte hingewiesen? Jetzt heißt es durchfechten, was alle Teile zusammen zustande gebracht haben. Daß das geschehen wird, dafür bürgt das Wort des Kaisers, dafür die Tüchtigkeit unsrer tapfern Truppen in diesen wildfremden Verhältnissen. Haben doch auch die Engländer von der Kapkolonie aus eine ganze Reihe von blutigen Kaffernkriegen führen müssen und trotz schweren Fehlschlägen diese tapfern Stämme doch endlich niedergezwungen. Für die Nation aber ist die herbe Lehre in Südafrika ebenso verdient wie nützlich. Sie steht als Ganzes immer noch nicht mit vollem Nachdruck hinter unsrer Kolonial- und Weltpolitik, genau so weuig wie sie seinerzeit hinter Bismarcks Einheitspolitik gestanden hat. Sie muß sich endlich — und nach zwanzig Jahren ist das wahrlich nicht zuviel verlangt — daran gewöhnen, daß unsre Schutzgebiete als Provinzen des Reichs behandelt werden müssen, daß auch sie deutsches Land sind, wo deutsche Arbeit geleistet, deutsches Kapital angelegt wird.
Je weniger dieser Standpunkt bisher festgehalten worden ist, desto sonderbarer ist es, wenn ein Teil unsrer Presse immer wieder findet, daß die Reichsregierung draußen zu wenig zugreift, ihr einen Vorwurf daraus macht, daß sie nicht die Hand zum Beispiel auf Marokko gelegt hat. Wollte Gott, wir könnten recht kräftig zugreifen, aber auch hier gilt Schillers Wort: „Was man von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück." Im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ist die überseeische Welt ohne uns verteilt worden, weil die Nation keinen Staat bildete und sich zerfleischte; erst seit einigen dreißig Jahren dürfen wir wieder mitreden, aber auch seitdem hat von großen Gelegenheiten in Südafrika, der Erwerbung der Santa-Luciabay, der Herstellung einer Gebietsverbindung zwischen unserm Südwestafrika und den Burenstaaten und des deutschen Protektorats über sie seinerzeit kein Gebrauch gemacht werden können oder ist wenigstens nicht gemacht worden. Und was würe jetzt möglich in dieser Weltlage, in der die Gefahr eines Weltkriegs über uns schwebt? mit dem südafrikanischen Krieg auf dem Nacken? mit dieser sich viel zu langsam entwickelnden Kriegsflotte? mit diesem Reichstage, der doch nur die Stimmung der Nation widerspiegelt? Wenn doch die Blätter, die solche Forderungen stellen, nur die Güte haben wollten, zu sagen, wo unter solchen Umständen Deutschland heute etwa Fuß fassen könnte, ohne sich mit starkem Seemächten zu verfeinden! Etwa in Südbrasilien oder in Patagonien oder in Westindien? Das alles kann sich mit der Weltlage zu unfern Gunsten ändern; aber daß dann zugegriffen wird, das hängt nicht nur von der Negierung, sondern auch vom Geiste der Nation ab, und diese darauf vorzubereiten, das ist eine der wichtigsten Aufgaben unsrer Presse, an der auch viele ihrer Organe redlich und verständig mitarbeiten.
Die fortwährende oft so kleinliche und hämische Kritik tuts nicht, so wenig eine sachliche, ernste und bescheidne Kritik zu entbehren ist. Aber neben gewissen Witzblättern, deren giftige und witzlose Karikaturen eine Schande für die deutsche Presse und eine Schmach für das gebildete deutsche Publikum sind, ohne