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Eine Silvesterbetrachtung
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Line Silvesterbetrcichtung

ein beträchtliches Übergewicht an Zahl erreichen sie sollen jetzt 400 000 Mann in der Mandschurei haben, so ist damit der Krieg noch nicht zu ihre» Gunsten entschieden, denn zum Entsatz des hart bedrängten Port Arthur werden sie doch zu spät kommen, und die Seeherrschaft, also die ungestörte Verbindung mit Japan für die Nachschübe und die Versorgung ihrer Armee, haben sich die Japaner von Anfang an gesichert, da die russische Flotte trotz rühmlichen Einzelleistuugen als Ganzes völlig versagt hat und jetzt teils in Wladiwostok eingefroren liegt, teils in Port Arthur fast ganz zerstört zu sein scheint. An dieser Lage der Dinge würde die jetzt teilweise schon in den indischen Gewässern eingetroffne baltische Flotte nur dann etwas ändern, wenn es ihr gelänge, die japanische Flotte entscheidend zu schlagen, und das auch nur dann, wenn sich Port Arthur solange hält; denn fällt dieses vorher, so hat das russische Geschwader keinen Zufluchts- und Neparaturhafen, könnte sich also in den chinesischen Meeren gar nicht halten. Also hängt alles hier von dem Seekriege ab, von dem Ergebnis der nächsten Seeschlacht. Unter­liegen die Russen abermals, dann würden ihre Landheere zwar die Japaner wohl vom chinesischen Festlande vertreiben können, aber schwerlich auch nur aus Korea, und jeder Angriff auf die japanischen Inseln wäre unmöglich; tritt der umgekehrte Fall ein, dann würden sie vielleicht auch Korea erobern können, schwerlich aber Japan selbst ernsthaft zu bedroheu imstande sein, aber ihr Über­gewicht im fernsten Osten, den eigentlichen Kampfpreis, können sie dann aller­dings wiederherstellen, soweit das England zuläßt.

Vorausgesetzt freilich, daß inzwischen in Rußland selbst alles beim alten bleibt. Denn sehr verschieden wirkt der Krieg auf die kriegführenden Völker. Die Japaner, die zum erstenmal einen großen Krieg führen, schmiedet er nur fester zusammen in ihrem leidenschaftlichen Patriotismus und ihrer großartigen Opferwilligkeit, denn für sie handelt es sich um Sein und Nichtsein als Groß­macht. In Nußland zeigen nicht nur einzelne Preßstimmen, sondern auch trotz aller offiziellen Schönfärberei die Schwierigkeiten bei der Mobilisierung und die massenhaften Desertionen in den westlichen Grenzprovinzen, daß der Krieg alles andre ist als volkstümlich. Der russische Soldat ficht tapfer wie immer, weil es ihm der Zar so befiehlt, aber er sieht kein begeisterndes Ziel vor sich, weil es keins gibt. Er verteidigt nicht den Boden des heiligen Rußlands, wie 1812 und 1853/56, er zieht nicht aus zur Befreiung seiner Glaubens­brüder, wie 1877/78, sondern er kämpft nm den Besitz einer fernen, fremden Provinz, die für die asiatische Machtstellung des Reichs ihre Bedeutung haben mag, die aber das russische Volk gar nichts angeht. In weiten Kreisen der gebildeten Russen aber regt sich der Grimm über die ganze Geschäftsführung des Absolutismus in diesem schweren Kriege, über seine Mißerfolge zu Land und zur See, und das Drängen nach einer Verfassung. Wenn sich die über­wiegende Mehrzahl der Delegierten der Semstwa, der Provinziallandtage, die von der herrschenden Bureaukratie immer argwöhnisch überwacht und einge­schränkt worden sind, für eine Verfassung ausspricht, wenn der Nachfolger des ermordeten Absolutisten Plehwe im Ministerium des Innern, Fürst Swjatopolk- Mirskij, eine solche Versammlung zuläßt, wenn sein Kollege im Justizministerium,