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Lin Abend bei den musikalischen Meiningern.
gäbe des musikalischen Gedankengangs. Das Wort bezeichnet eine sehr einfache Forderung, nnd es erregt vielleicht manchem Leser Befremden, das; in dieser Beziehung jene Mcininger Kleinstädter sich etwas Besondres wissen wollen. In Wirklichkeit ist aber die Klarheit bei Orchestervorträgen keine leichte Sache, und berühmte wie unberühmtc Orchester bleiben ihr zeitweilig vieles schuldig. Jeder nachdenkende Konzertbesuchcr kann das aus seiner eignen Erfahrung bestätigen. Spielt er seine Beethovenschen Sinfonien zn Hause am Klavier, so ist ihm alles verständlich; hört er sie im Orchester, so kommt es vor, daß er den Anhalt verliert. Gutmütig läßt er diese Thatsache auf sich beruhen und setzt gelegentlich einem jungen Freunde anseinander, daß es ziemlich schwer sei, einem Orchesterstück genau und ununterbrochen zu folgen. „Das liegt in der Natur der Sache, fügt er hinzu, und das menschliche Ohr muß erst allmählich und mühsam die Fertigkeit erwerben, sich in dem Gebransc und Gewirr der vielen Jnstrnmcnten- stimmen zurccht zu finden." Die Uudeutlichkeit liegt aber nicht in der Natur der Sache, sondern ganz wo anders; die Dirigenten selbst sind sich derselben selten bewußt. Die fortwährende Wiederholung derselben Kompositionen hat sie mit sich gebracht. Wohl sollte sich der Vortrag bei jeder neuen Aufführung eines klassischen Werkes verfeinern. Aber in der Regel verfällt er der Gefahr, zu verflachen. Ausführende und Zuhörende kennen das Werk oder glauben es zu kennen. Was sie nicht wirklich hören, ergänzen sie aus Eigenem, und so schleichen sich Mängel ein, die von den Eiugepfarrten des betreffenden Musiksprengels gar keiner merkt. Die Herren Rezensenten natürlich inbegriffen!
Moritz Hciuptmann giebt in seinen Briefen wiederholt der Verwunderung und dem Unwillen Ausdruck, welche ihm der Anblick des allzu großen Autoritätsglaubens einflößte, der ihm in der deutsche» Musikwclt häufig cmfstieß. Er ärgert sich über deu „dummen Respekt," mit welchem seine „Qnintenschüler" jedes seiner Worte entgegennehmen, er ist unzufrieden mit dem allzu klassische« Zuschnitt der Programme in den Leipziger Gcwnndthanskonzerten, weil dabei die Zuhörer iu eine gedankenlose Bewunderung verfielen. Noch viel frappanter aber als in diesen Fällen nimmt sich das blinde Vertrauen des deutschen Musikfreundes dann aus, wenn ein anerkanntes Meisterwerk durch eine wohl- akkreditirte Kapelle ausgeführt wird. Da stehen sie nun oben, die Herren Musiker, und spielen den ersten Satz der Eroiea, das kühnste Stück, das Beethoven als Sinfoniker hingestellt hat. Es kommt die Hauptstelle, wo ein Kampf greifbar im Orchester wütet, wo sich die streitenden Parteien so im leidenschaftlichsten Ringen nnd Stürmen erhitzen nnd verwirren, daß beiden der Atem ausgeht und mitten in der schneidendsten und schärfsten Dissonanz abgebrochen werden muß. Es ist eine fürchterliche Stelle, nnd beim bloßen Lesen der Partitur wird einem kalt und warm zugleich. Aber dieses um seine „ausgezeichnete Pflege der Klassiker" weitgepriesene Orchester spielt sie ruhig und gelassen wie ein Abendlied. Wir sind indignirt. Das verehrliche Publikum aber — spendet am Ende