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Der Krieg als Vermittler zwischen kirchlicher und unkirchlicher Frömmigkeit
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Der Krieg als Vermittler

dafür eingesetzt hatten, neues religiös-sittliches Leben im Volke zu wecken. 1914 aber lag hinter uns eine Zeit des Wohlstandes und des Aufschwunges, wie unser Land sie bislang noch nicht erlebt hatte. Solche Zeiten aber pflegen nicht die Zeiten zu sein, in denen die Menschenherzen von frommer Sehnsucht erfüllt sind und religiöse Kräfte heranreifen.

Und doch würde jenes jähe Erwachen und Erstarken des religiösen Lebens, wie wir es so deutlich beim Ausbruch des Weltkrieges wahrnehmen konnten, sicherlich nicht eingetreten sein, wären nicht in unserm Volke die Vorbedingungen dafür vorhanden gewesen.

Wie stand es mit der Frömmigkeit im Lande vor dem Kriege? Ein oberflächlicher Beurteiler unseres Volkslebens hätte vielleicht auf diese Frage geantwortet:Gewiß, es gab noch fromme Menschen unter uns. Aber ihre Zahl war nur gering und nahm von Jahr zu Jahr ab. Es war vorauszu­sehen, daß die Frömmigkeit bald aussterben würde." So ähnlich haben gewiß viele unter uns gedacht. Und man kann sich darüber nicht wundern. Es sah ja in der Tat so aus, als ob es so wäre. Wie gering war die Zahl der Kirchenbesucher, wenn man die Gesamtzahl der Gemeindeglieder berücksichtigt, wie klein die Zahl der Abendmahlsgäste. Immer lauter und schmerzlicher wurden die Klagen der Kirche über die zunehmende Unkirchlichkeit in Stadt und Land und das Schwinden der religiösen und sittlichen Kräfte in unserm Volke. Wohl war in den Häusern noch hier und da das Tischgebet üblich als letzter Rest frommer, von den Vätern ererbter Sitte, aber im übrigen spürte man im allgemeinen weder in den Häusern noch im Verkehr der Menschen untereinander etwas davon, daß die Religion noch eine Lebensmacht in unserm Volke war. Schon triumphierten die Feinde der Religion: Materialismus und Monismus und wie sie sich sonst noch nannten. Sie glaubten, es sei nun an der Zeit, der sterbenden Religion, der altersschwachen Kirche den Gnadenstoß zu geben. Schon glaubten sie ein Recht zu haben, den Anbruch einer neuen Zeit verkünden zu dürfen. Und mußten es dann er­leben, daß doch in unserm Volke stärkere religiöse Kräfte geschlummert hatten, als sie gedacht.

Freilich, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, einmal ein wenig tiefer in die Seele unseres Volkes hinabzuschauen, dann würden sie bemerkt haben, wie dort in der Tiefe schon seit längerer Zeit eine neue starke Sehnsucht sich regte, eine Sehnsucht, die weder der grobe Materialismus noch der feine und gelehrte Monismus zu befriedigen imstande war.

Wer auf die geistigen Strömungen und Unterströmungen in unserm Volke in den letzten zwei Jahrzehnten geachtet hat, der weiß, wie an so vielen Stellen ein Suchen und Sehnen nach neuen Lebensformen und Lebenskräften, nach neuen Zielen und Wegen und Führern sich bemerkbar machte. Man fühlte zu tief die Schäden und Notstände der Zeit. Den Besten im Volke war es aus dem Herzen gesprochen, wenn Cäsar Flaischlen klagend ausrief: