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Alte und neue deutsche Politik
zuzugreifen, um uns unseren Platz an der Sonne zu nehmen. Gewisse Übertreibungen von der ganz besonderen Bedeutung der germanischen Rasse auf Erden, und gewisse anspruchsvolle Prophezeiungen von der Rolle der deutschen Kultur in der Welt kamen hinzu, um das falsche weltpolitische Augenmaß noch verbreiteter zu machen.
So ist die Stimmung entstanden, in der die Ausführungen Frymanns wurzeln, und die seinem Buche die weite Verbreitung verschafft hat. Der Krieg hat uns inzwischen belehrt, daß wir der Anspannung aller Kräfte bedürfen, um uns wirklich durchzusetzen. Als es vor zwei Jahren mißlang, Frankreich im ersten Anlauf niederzuwerfen, da erkannten wir erst, daß von einem bloßen Jnbesitznehmen der Weltmacht keine Rede sein könne; und als vor kurzem Rumänien die Waffen wider uns erhob, da kam uns zu Bewußtsein, welche ungeahnten Schwierigkeiten unserm Ringen immer von neuem erwachsen. Wenn's nach der Meinung von Frymann gegangen wäre, dann hätten wir längst schon mal sest zugreifen und Krieg führen sollen, spätestens in der Marokkokrise 1911. Aber hätten wir den Weltkrieg, der sich etwa wegen Marokko entzündet hätte, ebensogut ertragen, wie den jetzigen? Hätte damals das deutsche Volk auch nur halb so willig die Leiden des Krieges auf sich genommen wie heute? Der Fürstenmord von Serajewo war ein Schlag, den jeder unter uns gefühlt hat, auch der Bauer und der Arbeiter. Das Interesse, das wir an Marokko hatten, war bei weitem dem Volke nicht so verständlich. Es wäre höchst unbismarckisch gewesen, um Marokko Krieg zu führen, denn Bismarck redete, wie man weiß, nicht bloß Fraktur, sondern wog auch sehr sorgfältig das für gröbere Sinne Unwägbare: die „Imponderabilien". Man wende nicht ein, daß Bismarck ja den Krieg von 1866 gegen den Willen des Volkes geführt habe. Das ist wohl wahr, aber er wagte es nur, weil er Österreich vorher diplomatisch völlig isoliert hatte, und weil er wegen der Güte des preußischen Heeres auf einen besonders raschen Sieg vertraute. Auch so war das Wagnis noch ungeheuer groß, und die Schnelligkeit des Schlages von Königgrätz war Bismarcks größtes Glück. Daß ein Krieg um Marokko nicht unter den Voraussetzungen des Kampfes von 1866 hätte geführt werden können, war jederzeit klar.
Da sagten nun die Leute, deren Stimmung Frymann Ausdruck gab, das sei eben leider nie zu erwarten, daß ein Krieg um Deutschlands Weltmacht mit den Sympathien der Massen des Volkes geführt werden könne. Dafür fehle dem Volke ewig das Verständnis. Darum schlug Frymann eine Reichsreform vor, die durch offenen Staatsstreich den Einfluß der Massen brechen und dem besitzenden und gebildeten Bürgertum das entscheidende Gewicht bei den Wahlen geben sollte. Frymann nannte sich einen „Altliberalen", und gehörte zu den Leuten, die absolut von der einseitigen Art ihres in der Neichs- gründungszeit und in gewissen Übertreibungen Treitschkes und verwandter Politiker wurzelnden Patriotismus nicht umlernen wollten. Er kannte gegenüber der Sozialdemokratie kein anderes Rezept als Totschlagen. Hätte sich eine