Die koloniale Alternative
von Professor Dr. Wilhelm Martin Becker
Vivere necesse est
m vorigen Jahre begann der Staatssekretär Dr. Solf einen Aufsatz über deutsche Kolonialpolitik*) mit den Worten: „Diese Schrift ist keine Apologie, keine Entschuldigung, daß, und keine Erklärung, warum wir Kolonien haben". Diese Einleitung aus der Feder des berufenen Fachmannes zeigt mehr als die Äußerungen der Tagespresse, daß das Koloniale, das sich lange Zeit von selbst verstand, in den Stunden des Nachdenkens, die uns dieser ungeheure Krieg schuf, von neuem zum Problem geworden ist. Ja, der Staatssekretär weiß, daß man eine Apologie von ihm erwartet; er hält es für nötig, die Entscheidung der Öffentlichkeit zu beeinflussen: in zahlreichen Vorträgen im ganzen Reiche hat er inzwischen die Notwendigkeit der Kolonialpolitik für unser neues Deutschland betont. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß es überflüssig ist, diese Frage nochmals durchzudenken.
Die Kolonialfrage ist für die europäischen Mächte in erster Linie eine Frage der geographischen Lage. Sobald mehrere Nationen da sind, die sich über See kolonisierend betätigen wollen, wird Letsns paribus diejenige den größeren Erfolg erzielen, die am ungestörtesten ihre Kräfte über die See spielen lassen kann, weil sie wenig Kraft auf die Verteidigung der heimischen Werte verwenden muß. Mit anderen Worten: ob eine von kontinentalen Besorgnissen freie Weltpolitik getrieben werden kann, das ist ausschlaggebend für den Erfolg einer solchen Politik. Hier haben wir die Voraussetzung für das Entstehen des englischen Kolonialreiches.**) England hatte am Ende des Mittelalters aus-
*) In dem von Otto Hintze u. a. herausgegebenen Buche „Deutschland und der Weltkrieg" (Leipzig u. Berlin 1915, Teubner), S. 142 ff.
"*) Als neuer Führer auf dem Gebiete der Geschichte kolonialer Betätigung bietet sich Veit Valentin dar (Kolonialgeschichte der Neuzeit, Tübingen 1916, Mohr). Der Verfasser Grenzboten III 191« 13