Staatsverträge und Vertragsbrüche im englischen Urteil
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bildeten, die Zukunft Osteuropas gestalten zu können'. Dies ist der Kommentar der Geschichte zu dem Versuch der Staatsmänner, ihre Länder an die Erfüllung von Verpflichtungen für immer zu binden, die sie in einem schwierigen Augenblick als Mittel, den Frieden zusammenzuflicken, übernahmen.
Einen neueren und besonders interessanten Fall, in dem von dem Argument der veränderten Umstände Gebrauch gemacht wurde, wird man in der Haltung finden, die ein einflußreicher Teil der britischen Presse und gewisse Schriftsteller im Jahre 1887 einnahmen, als der Durchmarsch deutscher und französischer Truppen durch Belgien wegen des zwischen den beiden Ländern damals bestehenden gespannten Verhältnisses in Erwägung gezogen wurde. Damals wurde angeführt, daß, nachdem alle militärischen Zugänge zwischen den beiden Ländern gegenseitig geschlossen seien, nur die neutralen Zugänge offen ständen, und daß dieser Zustand der Dinge erst nach dem Vertrage eingetreten sei, der die Neutralität Belgiens garantierte. Es sei deshalb für Großbritannien das richtige Verhalten, den Durchmarsch von Truppen über neutrales Territorium zu gestatten, vorausgesetzt, daß die Souveränität und Unabhängigkeit respektiert würde. Wenn an diesem Argument etwas richtig gewesen ist, so war es noch weit plausibler im Jahre 1914. Aber im letzteren Falle wurde es nicht benutzt, einfach, weil das Verhältnis Englands zu den in Frage stehenden Mächten sich verändert hatte.
Es ist also klar, daß es die Rücksicht auf sich selbst ist, die in der Hauptsache die Handlungen der Völker oder richtiger ihrer Regierungen bestimmt, eine Rücksicht, die im gegebenen Augenblick als eine Frage über Leben und Tod erscheinen muß. .Veränderte Umstände' können wohl als Vorwand benutzt werden, aber sie sind wenig dazu geeignet, als Rechtfertigung von den anderen interessierten Parteien angenommen zu werden, es sei denn, daß auch diese gerne dieselbe Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen möchten.
Es könnten andere Fälle von Vertragsbrüchen angeführt werden, Ver-> tragsverletzungen, die zum Abbruch der Beziehungen und zum Kriege geführt haben, Verletzungen, die diplomatische Proteste hervorgerufen haben und Verletzungen, die mit Schweigen übergangen wurden. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Nation, die für einen Vertragsbruch verantwortlich ist, wie unverzeihlich ihre Handlungsweise auch anderen Völkern erscheinen mag, notwendigerweise von unehrenhaften und aggressiven Beweggründen aus gehandelt habe; sie kann ja so handeln, weil sie glaubt, daß die nationale Gefahr, die die strenge Jnnehaltung nach sich ziehen würde, größer wäre, als das in der Verletzung eines internationalen Übereinkommens enthaltene Übel. Das Dilemma, in dem sich eine Nation unter solchen Umständen befindet, kann auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß Regierungen entweder während kritischer Verhandlungen über einen Friedensschluß oder in dem Wunsche, bei einer gegebenen Gelegenheit spezielle Verhältnisse zu schaffen, ihre Länder für immer verpflichten, ohne zu erwägen, ob nicht künftige Generationen unter