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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten
steht. Dazu kommt, daß die Presse über die Einzelheiten derartiger Unglücksfälle anders und besser orientiert als über das Sterben und Leiden jener einzelnen, nicht weniger unbekannten Personen, und daß diese bessere Kenntnis eine eingehendere Beschäftigung mit dem Geschehnis mit sich bringt. Aus dieser Kenntnis heraus wird auch das Mitleid, dieses beste aller menschlichen Gefühle, stärker hervorgerufen, es wird tiefer, nachhaltiger: es zwingt den Menschen sich Rechenschaft abzulegen über die Kleinheit und Begrenztheit menschlichen Schaffens und Wirkens. Aber mit alledem ist das Problem nicht erschöpft. Es lebt noch etwas anderes im Innern des einzelnen, was ihn mit Entsetzen über derartige Unglücksfälle erfüllt. Goethe schildert in „Dichtung und Wahrheit" den Eindruck, den das Erdbeben von Lissabon, welches am 1. November 1755 sechzigtausend Menschen um das Leben brachte, auf ihn, den damals sechsjährigen Knaben, gemacht hat. Er beschreibt das Unglück, welches durch dieses Erdbeben angerichtet wurde, steht betroffen vor der Plötzlichkeit des Unheils, schildert die Aufregung, die das Erdbeben hervorrief, wie die Gottesfürchtigen es nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, die Geistlichkeit nicht an Strafpredigten fehlen ließen und stellt dem seine, des sechsjährigen Knaben, Gefühle gegenüber. „Der Knabe," sagt er, „der alles dies wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen: Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben Preis gab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diesen Eindruck herzustellen."
Goethe hat damit den Urgrund des bei jedem öffentlichen Unglück wiederkehrenden Entsetzens der Menschheit aufgedeckt. Es ist die Verständnislostgkeit, mit der der gesittete Mensch dem Naturereignisse gegenübersteht. Das Gefühl des einzelnen, welches verlangt, daß jede Wirkung eine gerechte Ursache habe, revoltiert gegen das Plötzliche, das Unerklärliche, das Unfaßbare der Erscheinung, und in jedem einzelnen lebt mehr oder weniger bewußt die Empfindung auf, daß eine Ungerechtigkeit geschehen ist, die nicht hätte geschehen dürfen. Es ist das Gefühl der Gerechtigkeit, welches ihn sich empören läßt gegen die Ungerechtigkeit der Naturgewalten. Im Balkankriege sind Tausende um das Leben gekommen; an dem Schlachtentode unzähliger Menschen sind wir kalt vorübergegangen, weil wir wissen, daß der Krieg notwendig ist, weil wir wissen, daß im Kriege Menschen ihr Leben lassen müssen. Als aber an der Tschataldscha- linie Tausende von der Cholera hingerafft wurden, als die Leiden der Unglücklichen geschildert wurden, die ohne Arzt, ohne Linderungsmittel, ohne Wasser auf freiem Felde verrecken mußten, da empfanden wir das graue Entsetzen, das uns gegenüber der Ungerechtigkeit der Natur befällt. Dieses Gerechtigkeitsgefühl lebt in dem einzelnen so stark, daß La Fontaine erklärte, man solle die Gerechtigkeit höher achten als das größte Glück auf Erden. „Gesundheit," sagt er, „Fröhlichkeit, die Liebe anderer, Überfluß, ja selbst das Leben hängen nicht