Maßgebliches und Unmaßgebliches
Gesch ichte
Ranke hat einmal gesagt, der Historiker müsse alt werden, ehe er seines Amtes befriedigend walten könne. Dieser Ausspruch nimmt seine Berechtigung aus der Tatsache, daß der historische Stoff und seine Verknüpfungen ihre hauptsächliche Eigenart in den Geschehnissen finden, die ihre Wurzeln in die menschlichen Seelen senken und darum rein rational nicht erfaßbar sind; daß mithin der Historiker ein Seelenkundiger sein muß, der — soweit dies einem Menschen zugelassen ist — die Struktur des menschlichen Innern zu erkennen und bei der geschichtlichen Verknüpfung zu berücksichtigen vermag. Nicht sowohl Psychologische Gesetze als die Psychischen Erscheinungsformen werden für ihn von Bedeutung sein. Diese psychologische Erfahrung wird gewonnen durch Umgang und Verkehr mit anderen, durch Selbstbeobachtung, aber auch durch das Studium der Geschichte und Psychologisch wahrer Dichtung. Ist derartiges Tatsachenmaterial in reichem Maße in seine empfängliche Seele eingeströmt, so wird der Historiker immer klarer das Seelenleben der ihm entgegentretenden Menschen der Vergangenheit durchschauen, sie und ihre Motive richtig würdigen. Gerade Ranke war ein Meister der überzeugenden, weil mit der Erfahrung übereinstimmenden Seelenanalyse, und das bereits in verhältnismäßig jugendlichem Alter.
Jeder, der auf dieses Gebiet sein Studium konzentriert, wird sich also in der Masse der verschiedenartigsten seelisch bedingten Erscheinungen orientieren müssen, Hierbei treten die Erscheinungen in Gruppen zusammen, und
die im Einzelfall beobachteten Tntsachenkomplexe gewinnen nicht selten typische Bedeutung; ihr Psychischer Inhalt ist oft nur graduell von dem anderer Fälle verschieden, und durch Klarheit über die Typen gewinnt der Historiker Verständnis auch für die Erscheinungen des geschichtlichen Lebens, die sich als Übergänge zwischen den Typen oder als Mischungen und Kombinationen verschiedener typischer Fälle erweisen.
Ein gewisser Ersatz für diesen durch Lebenserfahrung und lange Beobachtung an historischen Objekten zu erlangenden Reichtum an typischen Begriffen kann uns geboten werden, wenn ein so Erfahrener die ihm begegneten typischen Tatsachen darlegt. Dies ist die Absicht des Buches von Ludwig Rieß: „Historik", ein Orgcmon geschichtlichen Denkens und For- schens (Band I, Verlag von Göschen, Berlin und Leipzig 1912). Ich lasse hier die in dem Buche anfangs gegebenen Auseinandersetzungen über Grundbegriffe und Grenzen der geschichtlichen Betrachtung beiseite, zumal manches darin anfechtbar ist, und weise nur auf das hin, Was den Hauptinhalt und Wert des Buches ausmacht: die Darstellung der Typen des individuellen Lebens und der freien Vereinigungen unter den Menschen; ihnen sollen im zweiten Band die Typen der organisierten Gemeinschaften und die „Summationen als Produkte des historischen Prozesses" folgen, nebst einem Überblick über die Aufgaben der Geschichtsphilosophie. Von der Art, wie Rieß seinen Stoff darstellt, haben die Leser durch den Abdruck des Kapitels über die Temperamente (Grenzboten 1912, Nr. 49, S. 467 bis 460) eine Probe erhalten. In derselben Weise sind nun Affekte, Gedächtnis, Phantasie,