Aanzlerreden
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Augenblick geboren, waren vielmehr Erzeugnisse wochen- ja monatelanger Denkarbeit, und wir wissen heute, das; jenes „Wir Deutsche fürchten Gott...!" keiner spontanen Eingebung seine Geburt verdankt, sondern langem Sinnen auf den einsamen Spaziergängen durch den Sachsenwald, — wohl berechnet für einen Zuhörerkreis, dessen Beifallstosen das Wort durch die ganze Welt tragen würde. Aber der erste Kanzler ließ sich auch Worte zuwerfen und prägte sie in die große Geste um, die ihm im Augenblick notwendig schien. Eine solche Geste war das Wort: „Nach Canossa gehn wir nicht!" aus seiner großen Kulturkampfrede am 14. Mai 1872. — Zwei Tage vor dieser Rede war auf einer Abendgesellschaft beim Fürsten aus Anlaß des Erscheinens eines neuen Werkes über die deutsche Geschichte auch von Heinrich dem Vierten die Rede gewesen. Die ebenso geistvolle wie schöne Gattin des württembergischen Bundesratsbevollmächtigten, Freifrau von Spitzemberg, die durch ihren Vater Varnbühler zum engsten Kreise des Hauses Bismarck gehörte, warf in die Unterhaltung: „Heinrich brauchte nicht nach Canofsa zu gehen, hätte er damals ein paar unserer Gardebataillone gehabt! Wir brauchen nicht mehr nach Canossa zu wandern!" — Zwei Tage später fiel das gefährliche Wort im preußischen Landtage, das soviel Hoffnungen weckte, aber auch Erbitterung heraufbeschwor.--—
Bismarck griff in die Ereignisse ein, saß stets auf dem Sprunge, das zu tnn, was die Sache erheischte. Als sein geliebter Herr von ruchloser Hand verwundet wurde, war sein erster Gedanke: jetzt wird der Reichstag aufgelöst! Er griff mit Titanenkraft zu, wenn die Notwendigkeit sich ergab, scheinbar ohne Rücksicht zu kennen. Parlament und Parteien benutzte er rücksichtslos für feine Zwecke, hat aber nie um eine gute Note von ihnen gebuhlt oder darum auf dem Redepodium getanzt. Kam es erst zur Schlacht im Reichstage, so war die Entscheidung über ihren Ausgang längst getroffen. In subtilster Vorarbeit hatte eine geniale Regierungskunst mit eiserner Konsequenz alles vorbereitet, und für den Regisseur, der scheinbar das Schlußbild im Reichstag zu stellen hatte, blieb kaum etwas anderes zu tun übrig, als den Vorhang fortzuziehen.
Der Glanz, der von Bülows schimmernder Persönlichkeit ausging, ist es, der heute noch Journalisten und Parlamentarier verleitet, Vergleiche heranzuziehen, wo diese nicht mehr am Platze sind. Zweifellos hatte Bernhard von Bülow, der Diplomat, es schwerer, sich im Reichstage zur Geltung zu bringen als Bismarck, der Reichsschmied. Ganz abgesehen von allen Schwierigkeiten an der allerhöchsten Stelle und trotz des großen Abstandes zwischen ihm und seinem unmittelbaren Vorgänger. Aber Bülow war ein glänzender, anziehender Redner, die oratorische Technik sitzt ihm im Blute. Nach wenigen Sätzen folgte man seinen Ausführungen willig mit dein gespanntesten Interesse, ethisch und ästhetisch angeregt. Applaus nnd Widerspruch forderte er nach Gutdünken heraus, wie und wo er sie brauchte, und so konnte er auf den Tribünen den Ein- druck der Schlagfertigkeit erwecken, wo tatsächlich eine ausgezeichnete Regiekünst