Das werdende Albanien
von w. von Massow in Berlin
enn man heute über Balkanfragen spricht, muß man sich zunächst immer gegenwärtig halten, daß man sich mit Dingen beschäftigt, bei denen jeder neue Tag eine neue Überraschung bringen kann. Von vornherein hat man sich also zu sagen, daß es ganz unmöglich ist, vorauszubestimmen, wie es kommen wird. Es ist schon viel, wenn es gelingt, in dem Erkennen dessen, was kommen kann, nicht allzuweit von der Wirklichkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit abzuirren. Diese Erwägung könnte vielleicht als Mittel erscheinen, um von diesen Fragen überhaupt abzuschrecken, anderseits aber berühren die Ereignisse auf dem Balkan so wichtige Interessen, die uns alle angehen, daß der Politiker sich der Notwendigkeit, sie zu erörtern, nicht entziehen kann. Es kann aber in diesem Falle nicht seines Amtes sein, den Vorhang vor der Zukunft vorwitzig lüften zu wollen; er soll vielmehr versuchen, das Bild der jeweiligen Gegenwart dem allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Damit sollen auch die Grenzen der hier gestellten Aufgabe bezeichnet sein.
Als der Krieg auf der Balkanhalbinsel ausbrach, gingen die Bemühungen der Großmächte zunächst dahin, den Status quo zu erhalten. Man hat dieses Bemühen verspottet und es als einen Beweis für die Kurzsichtigkeit der Zünftigen Diplomatie angesehen, die einmal wieder nicht erkannt habe, was jedem Schulknaben in Europa auf den ersten Blick klar gewesen sei. Dieser Spott war vom Laien- und Biertischstandpunkt zwar begreiflich, in Wahrheit aber sehr unberechtigt; es wird dabei vergessen, daß es, wollte man sehr schwerwiegende Folgen verhüten, vor allem nötig war, das Gemeinsame in den politischen Absichten der Großmächte möglichst schnell auf eine bestimmte Formel zu bringen, um einen Ausgangspunkt für ein einiges Vorgehen zu gewinnen. Grenzboten II 1913 4