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Aus Lmanuel Geibels Schülerzeit
Lübeck, den 13. Febr. 34.
Es ist heute Dein Geburtstag, Marie, und darum denk' ich an Dich. Und weil ich an Dich denke, schreib' ich Dir, wenn auch der Brief erst spät, vielleicht gar nicht an Dich kommt. Ich muß Dich doch auch einmal grüßen im blanken, sonnigen Hessenlande, und zwar schriftlich, denn die Grüße, die ich im vorigen Sommer den Lerchen und im Herbst den heimziehenden Schwalben aufgetragen, werden schwerlich an Dich gelangt sein. — Ich denke mir euer Hanau*) recht hübsch und lieb, ein freundliches Städtchen mit weißen rotgedeckten Häusern und hellen Fenstern, das gar lieblich aus dem frischgrünen Wäldchen hervorschaut, in dem weiland General Lambor/*) seine Himmelfahrt hielt. Ist's nicht so? Und die grünen Felder sind im Sommer so sonnig warm, und der Himmel lächelt so blau, so unabsehbar blau herab, daß das Herz gleich sprechen möchte: Hier ist gut Hütten bauen! Laß mich weilen!***)
Und vielleicht hat Dein kleines Herz auch so gesprochen, und der kleine, spitze, rote Mund auch, und das blonde Köpfchen voll krauser Gedanken und Wünsche hat schon ordentlich darauf gesonnen, wie das anzufangen sei — aber sag' ihm nur, es soll sein krauses Sinnen lassen und ruhig den Reisehut aufsetzen und heimkehren zu uns, denn Deine Freundinnen sähen Dich gar zu gern einmal wieder, und ich auch, und der alte treue Kater auch. — Der arme Kater! Wie hat er geseufzt und geweint, als Ihr fort wart, wie ist er herumgeschlichen trüb und abgehärmt, und die dunkle Schmerzensglut brannte in seinen düstergrünen Augen, wie der rote Blitz, der über das aufgewühlte Meer dahinfährt! Zuletzt hat er seine Zuflucht zu den freien Künsten genommen und hat unaussprechliche Sonette der Sehnsucht gedichtet, und sie in unstngbare Musik gesetzt. Einmal habe ich ihn belauscht; es war ein wintertrüber Sonnabendabend, die Laternen der Fischstraße streuten ihr schauerlich ungewisses Licht umher. Der alte Marineleuchtturm stand da, das ehrwürdige Haupt wehmütig geneigt, und horchte — der aber sang mit dumpfen, schmerzlich heiseren Tönen die herzzerreißenden Lieder seines Verlangens, und jede Strophe schloß: Kehrwieder! Kehr wieder! O Maria! — Hättest Du diesen
*) Emanuel kam zuerst im folgenden Jahre im Herbst von Bonn aus nach Hanau — zum zweiten Mal 1842 — und weilte mehrere Wochen bei seines Vaters Schwester Elisabeth, die an den Uhrmacher Schlicht im Silbernen Engel in der Sternstraße verheiratet war. Er suchte auch alsbald das Dorf Wachenbuchen auf, wo das — inzwischen verschwundene — Haus seiner Familie „Zur Lilie" stand (s. G. W. III, S. 4«: „Mein Stammhaus steht im Frankenland — Im Dorf zu Wachenbuchen").
**) Der kaiserliche General Wilhelm Graf von Lamboy (5 16S9) belagerte Hanau von September 1635 ab, wurde aber am 13. Juni 1636 vom Landgrafen Wilhelm den Fünften von Hessen-Cassel geschlagen und Vertrieben. An diesem Tage wird noch .das Lamboy-Fest im Lamboy-Wäldchen gefeiert. Himmelfahrtsfest war 1636 am 6. Mai.
***) In mehrmaligem Wechsel mit Hamburg und Lübeck lebte Frau GcmSlandt mit ihren drei Kindern damals gerade etwa zwei Jahre in Hanau.