Geschichtsxhilosophische Probleme
391
Rußland der instiktive Expansionstrieb des Panslaroisnms, was sie gegen uns aufgepeitscht und losgelassen hat; und auf unserer Seite vollends ziehen die jungen Regimenter in Hellem Idealismus dem Feinde entgegen. Deswegen ist auch der Gegensatz von kultureller und politischer Geschichte stets nur ein fließender, kein ausschließender: die Kunst Athens versteht man nur aus dessen politischer Geschichte, und die Politik der italienischen Kondottiere nur aus der von Haus aus ästhetischen und individualistischen Renaissancestimmung heraus. Die Lehre von der überall vorhandenen Priorität des ökonomischen Faktors vor dem ideellen ist dogmatisch, nicht wissenschaftlich, indem sie als Voraus- setzung hinstellt und hinnimmt, was erst jedesmal besonderer Untersuchung bedarf. Natürlich kann der Historiker vom Wirtschaftlichen,' er kann aber ebensogut auch von der Religion oder den Sitten, von der Kunst oder der Philosophie ausgehen; nur muß er sich dabei bewußt bleiben, daß jede dieser Auffassungen eine einseitige und unvollständige ist, und muß daher immer auch die anderen Faktoren gelten lassen und zu Hilfe rufen. Und da zeigen gerade Zeiten, wie die unserige. daß der umfassendste Gesichtspunkt und der höchste Standpunkt, von dem aus man Geschichte verstehen und Geschichte schreiben kann, doch nur der politische, der staatliche ist, und daß von ihm aus am ehesten noch das Ganze erfaßt und begriffen werden kann. Staatengeschichte ist eigentlich das, was wir Geschichte nennen: das haben wir eine Zeitlang fast vergessen, wie wir es nicht mehr haben wollen gelten lassen, daß Kriege Knotenpunkte sind im Völkerleben, an denen die Völkerschicksale gewogen und von denen sie auf Jahrzehnte hinaus auch wirtschaftlich und kulturell bestimmt werden. Heute ist es uns allen klar: nicht der einzige, aber der große Gesichtspunkt, unter den wir die geschichtlichen Erlebnisse zu stellen haben, ist der staatliche; denn der Staat verloren, alles verloren.
Diesem Gedanken ist freilich die christliche Geschichtsphilosophie von Anfang an mit widersprechenden Gefühlen gegenübergestanden. Römer 13 hat der Apostel Paulus alle staatliche Obrigkeit und somit den Staat selbst als von Gott verordnet erklärt, Apokalypse 13 aber hat deren Verfasser den Drachen, das heißt den Teufel als den genannt, der dem großen Leviathan Staat seine Kraft und große Macht gegeben habe; das ist der große Widerspruch im Neuen Testament: denn beide Male ist von demselben, vom römischen Staat unter Kaiser Nero die Rede. Die civitas terrena, der weltliche Staat schien dann auch dem hierin der Apokalypse folgenden Augustin vom Bösen zu stammen: indem er ihm die Kirche als Gottesstaat gegenüberstellt, bestimmt er die An- schauung des Mittelalters. Die Entprofanisierung wie des Berufs überhaupt, so auch der weltlichen Obrigkeit und des Staates vollzieht im Anschluß an Paulus und teilweise nach dem Vorgang der nominalistischen Scholastik Luther und öffnet damit der Neuzeit Tür und Tor. Und am Ende des achtzehnten und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich derselbe Widerspruch wieder, natürlich in ganz verdünnter und vergeistigter Form. W. von Humboldt