Geschichtsphilosophische Probleme
von Prof. Dr. Theobald Ziegler
s ist schwer, in unserer ganz nur von Gegenwartseindrücken erfüllten Zeit die Seele und die Gedanken wegzurufen zu abstrakten Fragen der Wissenschaft; und ob der Trost, daß gerade in dieser Zeit der Spannung der Mensch doch auch Augenblicke eines Sich- loslösens von diesem übergewaltigen Gegenwartsinteresse brauche und haben wolle und ihm ein sich konzentrieren auf abgelegene wissenschaftliche Probleme ab und zu gut tue, — ob dieser Trost ganz verfängt, ich weiß es nicht. Deswegen habe ich zwischen der wissenschaftlichen Pflicht, zu dem von mir zu behandelnden Thema zu sprechen, und meiner persönlichen Neigung, nur vom Krieg zu reden, einen Kompromiß gesucht und das Thema so gewählt, daß es mit diesem uns allen am nächsten Liegenden doch wenigstens in Fühlung und Berührung bleibt und mir gelegentliche Übergriffe gestattet, ohne daß ich sie allzusehr an den Haaren herbeiziehen müßte. Über Geschichte möchte ich hier einige Bemerkungen vortragen dürfen und auf Probleme hinweisen, — nicht in der Meinung, sie kurzer Hand lösen zu können, sondern um sie just als Probleme zu kennzeichnen und in ihrer Schwere aufzuzeigen.
Geschichte erleben wir in diesem Augenblick wie nie zuvor, und wie auch wir Älteren und Ältesten sie 1870 nicht erlebt haben, die Geschichte eines grandiosen Weltkrieges. Aber ist, was wir vom Krieg erleben, wirklich auch schon seine Geschichte? Die Feldpostbriefe, heute unsere liebste Lektüre, weil sie dieses Erleben anschaulich schildern, kommen nicht in das Buch der Geschichte, und auch von dem, was sie berichten, selbst das Wertvollste, das Individuelle und Intime, schwerlich oder höchstens nur in kleinster Auswahl. Die, die sie schreiben, bitten vielmehr uns in der Heimat um Nachrichten über den Gang, das heißt also über die Geschichte des Krieges: sie erleben oder, wie sie ganz sinnlich sagen, sie riechen den Krieg, aber von seiner Geschichte wissen sie weniger als wir daheim. Ist aber so schon zwischen Geschichte erleben und Geschichte schreiben eine große Kluft befestigt und ein weiter Schritt hinüber vom einen zum anderen, so wird dieser Schritt noch einmal größer und die Kluft noch einmal weiter, wenn wir die Geschichte zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung machen und fragen, was denn eine Geschichtsphilosophie sei, was sie zu tun habe und leisten könne?