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Der deutsch-englische Gegensatz
hatte die großen Siege, die zur Einigung Deutschlands führten, errungen; ihre Aufgabe schien es auch, das Gewonnene zu verteidigen. Und so wandte sich die Fürsorge der Negierung und des Volkes fast ausschließlich dem Heere zu. Der wirtschaftliche Aufschwung, der nach dem Kriege begann, dauerte freilich nicht lange. Im Jahre 1873 setzte die größte wirtschaftliche Krise ein. die die Geschichte kennt. Sie nahm ihren Ausgang von Wien, mit dem Zusammenbruch einiger Bankhäuser. Die Erschütterung zog weite Kreise, ihre Wellen verrannen nicht, wie es wohl geschieht, wenn man einen Stein in ein stilles Wasser wirft, sondern sie wuchsen, wie wenn der Sturm hinter den Wogen steht. Deutschland wurde zunächst von dieser Sturmflut ergriffen; dann schlugen die Wellen hinüber nach England, und von dort, wo sich damals noch der Clearingverkehr der ganzen Welt konzentrierte, ging die Erschütterung durch alle Erdteile. Und die Krise ging nicht, wie es bisher bei noch so starken Konjunkturstürzen der Fall gewesen war. in ein oder zwei Jahren vorüber, sondern sie dauerte wenigstens fünf bis sechs Jahre. Und gerade als ein langsamer Aufschwung des gewerblichen Lebens einzusetzen begann, da brach eine zweite Krise über Europa herein, deren erster Anprall England traf. Es war die Ende der siebziger Jahre beginnende große chronische Agrarkrise. In jener Zeit nun begann die englische Presse das Lied anzuheben, das seither in allen Tonarten gesungen und gepfiffen wurde: Deutschland, der Emporkömmling, der widerrechtliche Eindringling in unsere wirtschaftliche Interessensphäre, ist unser Feind.
Es ist zunächst merkwürdig, daß damals dieses feindselige Konkurrenzgefühl eigentlich eines guten Grundes entbehrte. Die Leistungen der deutschen Industrie hatte der deutsche Kommissar auf der Weltausstellung in Philadelphia mit dem bekannten Wort charakterisiert: billig und schlecht. In den wenigen Jahren, die seither verflossen waren, konnte sich daran nicht so sehr viel geändert haben. Vor allem aber dies: in keinem der großen Handelsländer weist von Mitte der siebziger Jahre an während zwanzig Jahre der Handel eine namhafte Steigerung auf. — Die lang andauernde Geschäftsstockung führte sogar 1886 in England zu einer Untersuchung der Ursachen des Darnieder- liegens von Handel und Gewerbe. Die mit dieser Aufgabe betraute Königliche Kommission fand, daß in erster Linie Deutschlands Wettbewerb für den wirtschaftlichen Stillstand in England verantwortlich zu machen sei. In dem Bericht, den sie erstattete, heißt es: „In der Warenproduktion an sich haben wir, wenn überhaupt, nur sehr wenige Vorzüge vor Deutschland voraus, und in der Kenntnis des Weltmarktes, in dem Bestreben, sich den lokalen Verhältnissen anzupassen und sich überall, wo es möglich ist, dauernd festzusetzen, fangen die Deutschen sogar an, uns zu übertreffen." — So hatie die Öffentlichkeit die amtliche Bestätigung erhalten, daß Deutschland der unbequeme Nachbar und Störenfried sei. Das steigerte begreiflicherweise die Unbeliebtheit der Deutschen. Die Unbeliebtheit führte bald znr Verdächtigung und seit dem Burenkriege