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Die Grenzen des Versicherungsgedanken : ein Beitrag zur Philosophie der Zivilisation
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Die Grenzen des versichcrungsgcdcinkens

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fetten Bourgeois, dcr in der Eisenbahn eine Dame stehen läßt, weil ersein Billet so gut bezahlt hat, wie sie" oder der bei der Table d'hote sich die besten Stücke von der Schüssel sucht, weil er dazu eingutes Recht" zu haben glaubt. Gerade dieser ethisch höchst anfechtbare Menschenschlag gerät aber bekanntlich bei der geringfügigsten Antastung seiner heiligenRechte" in eine fürchterliche moralische Entrüstung.

Diese Verleitung zum skrupellosen Rechtsstandpunkt ist der Kern der demoralisierenden Wirkung der Versicherung auf den Versicherten. Es verdient noch hervorgehoben zu werden, daß sie zugleich eine Art von ganz sublimem Hochmut nährt. Es ist der sogenannte Bettelstolz, sich nichts schenken lassen zu wollen. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser in einer niedrigen Auffassung vom Wesen des Geschenks gründet. Das echte Geschenk als Gabe der Güte hat mit der Möglichkeit des Empfängerssich zu revanchieren" nichts zu tun, denn das Gegengeschenk schiebt dem zuerst Gebenden die Hoffnung auf ein solches unter, wodurch seine Gabe entwertet wird, und es verkennt zugleich die Unvergeltbarkeit des wahren Geschenks. Gewiß gilt Nietzsches Gebot der Sprödigkeit im Annehmen zu Recht. Wir sollen nur von der Liebe annehmen, und diese unsere Annahme ist eine Ehrung, die wir dem Geber erweisen. Der echten Liebe aber, der Caritas, eine Gabe zurückzuweisen, ist Hochmut. Dieser Hochmut, der in der Not die Hilfe der Freunde verschmäht, findet in dem Rechtsstandpunkt, den ihm die Institution der Versicherung nahe legt, einen willkommenen Schlupfwinkel. Dem willigen Geschenk der Güte seiner Freunde, seinerNächsten", zieht der auf diesem Standpunkt Stehende in seinem verirrten Stolze die Gabe derer vor, die in der Versicherung ihre Prämien umsonst gezahlt oder doch sich wenigstens bloß eine Portion Sorglosigkeit damit erkauft haben.

Schon alle bisherigen Ausführungen laufen der herrschenden, von der glänzenden Außenseite der Versicherungsidee bestochenen Meinung so entgegen, daß nur von einem tieferen Durchdenken mehr als ein Kopfschütteln oder ein unwilliges Achselzucken zu erwarten ist. Zu tief in den Gliedern sitzt uns allen ja der leidige Zivilisaüonsstolz des neuzeitlichen Menschen, wie wir es doch so herrlich weit gebracht! Vollends aber zu einer Lächerlichkeit ist es geworden, wenn wir daran erinnern, daß die Versicherung ein hervorragendes Mittel ist, um den Gott auszuschalten, der das Wort von den Lilien auf dem Feld sprach. Es muß in besonderem Zusammenhang erhärtet werden, wie es die Rolle der Zivilisation ist, den gottgewollten Unterschied von Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft zu fälschen. Insbesondere gilt dies von der Zukunft, die durch unsere klugen Vorausberechnungen savoir pour prövoir sagt Comte vom Wesen der Wissenschaft, durch unsere hygienisch-prophylaktischen Schlauheiten und durch unser sinnreiches Versichernngssystem ihres Zukunftscharakters so weit entkleidet wird, daß wir uns ganz behaglich darin einnisten, als gehörten wir dahin und nicht in die Gegenwart und nur in sie. Auch hier tritt zutage, wie die Zivilisation im Mißtrauen wurzelt. Da aber das Wesen der Religion