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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

E.Pierson) bringt, ist gut gemeint. Aber es ist am Schreiblisch ersonnen und nicht aus dem Born eigener Beobachtung und Empfindung geflossen. Besser als die kriegerischen sind die Wander­lieder und die der Naturbetrachtung gewid­meten.

Man sammelt heute mit Eifer alles, was aus alter und neuer Zeit au Briefen, Tage­büchern und sonstigen Aufzeichnungen in bezug auf kriegerische Begebenheiten existiert. Denn man hat den hohen Wert solcher Schriften für die historische Forschung, namentlich nach der psychologischen Seite hin, erkannt. Wie wäre es, wenn man bon amtlicher Stelle aus auch der kriegerischen Poesie etwas Aufmerk­samkeit schenkte? Auch auS ihren Liedern kann man die Stimmung einer Armee er­kennen. Ohne richtige Stimmung aber kein Sieg!

Hauptmann Dr. Fritz Boeder-Fricdenan

Philosophie

Kant im Alltag. Unter den Drei-Mnrk- Büchern des Jnselverlnges ist im Jahre 1911 auch eine Auswahl von Kauts Briefen er­schienen, die F. Ohmcmn zusammengestellt und herausgegeben hat. Aus der Zahl der etwa 300 bekannten Kantbriefe hat der Heraus­geber alles das ausgewählt, was für das Wesen von'Kants Persönlichkeit und für die Entwicklung der Kantischen Philosophie irgend­wie bezeichnend ist. Nach der auch sonst bekannten Art dieser Jnselnusgaben bringt ein Anhang am Schluß und ein Personen­register die notwendigen Erläuterungen, die auch einem, der weniger in .Kants Zeit und Leben zu Hause ist, die geschichtlichen Zu­sammenhänge knüpfen. Eine Einleitung zieht, vorandeutend auf die Aufschlüsse, die der Briefwechsel einem modernen Menschen über die Wcsenseigenart Kants geben kann, die allgemeinsten Umrisse um die Persönlichkeit des Königsberger Philosophen und hebt sehr gut und sehr bezeichnend dasjenige hervor, was dem neuen Leser mit seinem modernen Per­sönlichkeitsbegriff als besonders auffallend entgegentreten muß: das Unpersönliche in Kants Persönlichkeit. DaS ist nur schembar eine nichtssagende Paradoxe. In Wahrheit beweist ihre Möglichkeit, daß wir, daß unser

voluntaristisches Zeitalter, eiuen zu engen Begriff der Persönlichkeit hat. Dieser Begriff umfaßt für uns in der Hauptsache die Willens­persönlichkeit, soweit sie handelnd und fühlend auftritt. Der Typus dieser Persönlichkeit könnte durch Bismarck einerseits und durch Nietzsche anderseits repräsentiert werden. Eine Persönlichkeit, in der das Denken eine solche zentrale und alles andere ausscheidende Stellung einnimmt wie bei Kant, erscheint uns heute gar nicht einmal mehr anschaulich als Persönlichkeit. Denn wir lassen heute gern einen Mann und sein Werk in erster Reihe ästhetisch auf uns wirken und was wäre ästetischer als ein starkes handelndes Wollen und ein tiefes Fühlen I Deshalb erfassen wir den Persönlichkeitswert solcher Männer wie Bismarck oder sei es selbst Napoleon und Nietzsche unmittelbar und stark. Der Persönlichkeitswert dagegen eines Kant, eines Menschen, der nach Ohmanns Worten in der Einleitungnur eiu großes Denkorgan war", der,weil er nicht die Kraft hat, sich zugleich an die Mitmenschen und das Werk zu verschwenden", alles beiseite schiebt, sinas ihn beim Nachdenken,einer Gemütsbeschäftigung so zärtlicher Art",") stören könnte, der Persönlichkeitswert eines solchen Menschen ist zu abstrakt, als daß er des unmittelbaren, des ästhetischen Eindrucks auf uns sähig wäre. Daher geben auch Kants Briefe unsmehr eine indirekte Schilderung seiner Persönlichkeit durch die Darstellung der Kleinlichkeit und Nichtigkeit, der Alltäg­lichkeit seines äußeren und persönlichen Lebens, sie schildern uns Kants Alltag. Erst wenn man sich klar gemacht hat, daß die' Leere von Kants Alltag gewissermaßen nichts anderes ist, als die Folge und die Kehrseite seiner einseitig und beherrschend entwickelten Denkanlage, so steigt vor unserem inneren gestaltenden Auge an der Hand dieser Zu­sammenhänge das Bild des Königsberger Weisen auf, dessen Denken so revolutionär wirkte, daß seine Person um so gebrechlicher und schwächlicher uns erscheinen muß.

Dr. w. Warstat-Altona

*) An MnrcuS Herz. 21. Februar 1772. Ausg. Br. 16.