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Briefe aus China
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Briefe aus China

Jetzt begann der Gottesdienst, wie ich noch keinen ähnlichen erlebt habe. Die Musik (Orgel und Regimentsmusik) schien ein Opernpotpourri zu sein, wenigstens erkannte ich unter anderem eine Arie aus derTraviata". Dazwischen gab es auch eine Art Zigeunermnsik mit Kastagnettenbegleitnng, und den Schluß bildete ein ausgelassener lustiger Walzer. Getanzt wurde uicht, obwohl man es den zahlreich erschienenen Nonnen anmerkte, daß ihnen die Beine juckten, und ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn sie, wie ihre Kolleginnen inRobert dem Teufel", plötzlich die Kutte abgeworfen und als Balletteusen einen Cancan auf­geführt hätten! Trotz alledem möchte ich glauben, daß der liebe Gott daran mehr Vergnügen hat, als an den steifleinenen Engländern, wenn sie allsonntäglich dreimal mit meterlangen Schritten und ellenlangen Gesichtern ihrem frommen Kirchensport nachgehen, doch will ich Guillot") nicht ins Handwerk pfuschen er muß dergleichen ja besser wissen.

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Au seine Schwester.

Peking. 17. Dezember 1897. ... Sir Robert Hart verdient es, daß man ihm den schuldigen Respekt entgegenbringt weit mehr als alle übrigen Europäer in Snmma. Er erinnert äußerlich sehr an Geheimrat Schöne. Es ist merkwürdig, daß dieser Manu, dessen grandiose Zollverwaltung, die sich über das ganze chinesische Reich erstreckt und ein Heer von dreitausend Beamten beschäftigt, von einer solchen Schüchternheit ist, daß er jeden Augenblick vor Verlegenheit errötet. Er lebt so ausschließlich seiner Arbeit, daß er fast für nichts anderes Sinn hat. Er hat noch nie die große Mauer gesehen und ist neulich, wie er mir erzählte, bei Gelegenheit eines Tiffins. das der österreichische Gesandte im Gelben Tempel veranstaltete, seit sieben Jahren zum ersten Male aus den Mauern Pekings heraus­gekommen. Die letzte Reise, die er vor zwölf Jahren gemacht hat, war eine Dienstreise nach Hongkong. In England ist er seit zwanzig Jahren nicht gewesen und er ist schon seit vierundvierzig Jahren in China. Seine Frau lebt seit sechzehn Jahren in England, und während dieser ganzen Zeit hat er sie nie gesehen,ske rirekörs I^ui-ope v/itkout a liusb-mcl to Lturm vitk Ä Kusbancl," sagte er zu Lilln. Seine Lebensweise zeichnet sich durch die Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes aus. Er frühstückt jeden Tag um 7 Uhr, spielt danach eine Stunde lang Cello und geht dann an die Arbeit. Um 1 Uhr ist Tiffin; danach hält er ein Schläfchen von 10 Minute» und geht wieder an die Arbeit. Um 5 Uhr trinkt er Tee und geht dann noch auf einen Augenblick ins Bureau, für deu Fall, daß etwas Wichtiges vorliegen sollte. Dann gibt er der Tochter eines seiner Beamten. Mr. Campbell, täglich eine Violinstunde, ißt um 8 Uhr Mittag und verbringt den Abend mit leichter Lektüre. Kein Zweiter hat für China so

") Prediger in Petersburg.