Das deutsch-französische Grenzproblem
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die das Antlitz der Erde charakterisierenden Einheiten. Wie schon angedeutet, wird diese Einheitlichkeit eines Flußgebietes durch die Wirkungen der Schwerkraft zu lebendigem Ausdruck gebracht. Jede Bewegung von dem Muldenrande nach der Mitte hin wird von der Schwerkraft unterstützt, jede Bewegung im umgekehrten Sinn dagegen gehemmt. Aller Verkehr, den die Erde selbst unterhält, bewegt sich ausschließlich in der erstbezeichneten Richtung. Die Gegenstände desselben sind das Wasser, die verwitterten Gesteine, Pflanzen- und Tierkadaver. Die Bahnen, in denen diese Bewegungen sich vornehmlich abspielen, sind die Flußrinnen. Dabei hat jedes dieser Gewässer seinen eigenartigen chemischen Bestand, seine ganz bestimmten Schottermassen, seine Besonderheiten in der Pflanzen- und Tierwelt, seine klimatischen Eigentümlichkeiten. Die Wasserarten des Rheins, der Elbe, der Seine, der Rhone lassen sich sowohl durch chemische und mineralogische Analyse, als auch durch Untersuchung ihrer Kleinlebewesen bestimmen. So gleicht das Wasser eines Stromsystems dem Blut in einem tierischen Körper, das auch bei den verschiedenen Arten seine besondere Mischung hat, das sich auch im ganzen Körper mit Abfallstoffen oder auch mit Baustoffen belädt, um dieselben entweder aus dem Organismus hinanszubringen oder anderwärts als Knochen-, Muskel- oder Fettmasse aufzulagern, gleichwie das Flußwasser die gelösten und leichtesten Stoffe aus dem Stromgebiet ins Meer entführt, während es die schwereren Verwitterungsprodukte an geeigneten Stelle,: als Tone, Sande, Kiese, Gerölle, Kohlenschlamme auflagert. Eine solche Oberflächenmulde der Erde ohne lebendiges Flußsystem gleicht einem Körper ohne Blut: beide sind tot.
Aber nicht nur in seinen „Lebensvorgängen", sondern auch in seiner natürlichen Organisation gleicht ein Flußgebiet einein tierischen Organismus. Der Körper aller höheren Tiere ist segmental gebaut, d. h. er besteht aus einer Reihe hintereinanderliegender Abschnitte. Bei den Insekten, Krebsen, Ningelwürmern sind diese äußerlich an der Ringelung des Körpers und der Verteilung der Bewegungsorgane zu erkennen. Bei den Wirbeltieren (einschließlich des Menschen) werden sie durch die Wirbel des Rückgrates, die Rippen, die Anordnung der von den Hauptadern abzweigenden oder in sie einmündenden Nebenadern angedeutet. Der Wirbelsäule (mit Rückenmark) und den Hauptadern gleichen die Hauptströme inmitten eines Flußgebietes; ihren Gliedern bez. ihren Verzweigungen gleichen die Nebenflüsse, die von beiden Seiten her in den Hauptfluß münden und sein Gebiet ebenfalls in hintereinander liegende Abschnitte einteilen: Zwischen diesen sind die Wasserscheiden zweiten Ranges; sie trennen die Mulden der Nebenflüsse von einander und sind querverlaufeude Abzweigungen des Hauptrandes.
Wenn an einem solchen tierischen Körper eine Abtrennung vorgenommen werden muß, z. B. durch eine Operation, so kann dies nur durch einen Schnitt geschehen, der quer zur Hauptrichtung geführt ist, also im Sinne der segmentalen Teilung. Hat z. B. ein Ringelwurm das Unglück, in der Mitte glatt durch-
Grenzbolm III 1911