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Christian Dietrich Grabbe
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Christian Dietrich Grabbe

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Wesen des Dichters unterstützte die krankhafte Überreizung in der weichlichen Sympathie für die verkannten Genies. In Wirklichkeit gibt es mehr verrannte als verkannte Genies, und dank Goethe dürfen wir heute nach Überwindung von Nomantik und dekadenter Vorliebe für den Hochgeruch beginnender Fäulnis an jeden Menschen, der uns etwas zu sagen hat, die Forderung stellen: Bleib hübsch gesund! Die Forderung! Aber grausam ist es, einem Dichter, der die zerstörenden Mächte in sich birgt, das bißchen Schuld vorzurechnen, das er vielleicht an der Beschleunigung des Prozesses trägt. Und wenn Goethe auch Bürgers Verschuldung keineswegs bemäntelt, er hat doch seinem poetischen Werk noch im Alter gehuldigt.Es kostet mich nichts," schreibt er 1830 an Zelter, Bürgers Talent anzuerkennen; er war immer zu seiner Zeit bedeutend; auch gilt das Echte, Wahre daran noch immer und wird in der Geschichte der deutschen Literatur mit Ehren genannt werden. ... Es war ein entschiedenes deutsches Talent, aber ohne Grund und ohne Geschmack." Das paßt alles wieder genau auf Grabbe, als wäre es für ihn zugeschnitten; und heute ist es wohl Zeit, mit freierem Blick zu untersuchen, warum der arme Detmolder Bürgerjunge zu dem armen Dichter Grabbe werden mußte.

Grabbe ist nicht so sehr verkannt als vergessen. Schon bei Lebzeiten haben namhafte Literarhistoriker und einflußreiche literarische Persönlichkeiten wie Tieck, Menzel und Jmmermann den Ringenden gestützt, dem Sinkenden die rettende Hand geboten. Gefährlich war es für Grabbes Ruf, daß Gervinus und Scherer kein Verhältnis zu ihm finden konnten. Aber als mit dem natura­listischen Drama zugleich als heilsame Gegenwirkung die ernste Arbeit um das Verständnis Kleists und Hebbels begann, wurde mehr und mehr Grabbe ans Licht gezogen, und man stellte ihn als Dritten in die gefährliche Nachbarschaft der beiden überragenden Dramatiker des neunzehnten Jahrhunderts, als dritten großen dramatischen Dichter eigentümlich germanischen Gepräges. Seitdem ist Grabbe nun auch in neuen Ausgaben*) zugänglich geworden, und durch Otto Nietens Arbeiten ist das tiefere Verständnis für Grabbe, das Grisebach angebahnt hatte, immer weiter ausgebaut worden. Das kurze zerrissene Leben, dessen Flecken in dem leidenschaftlichen Grabbeaufsatz aus Goedekes Grundriß lieblos übertrieben worden sind, kann nach Eröffnung der Briefe und Manu­skripte in den Bibliotheken von Detmold und Berlin nur die tiefste Teilnahme erwecken.Beklag' mich, Leser, schilt mich nichtl"

Grabbes Wesen ist durch und durch auf Opposition gestellt, eine so scharfe Aufbäumung gegen die gesamte persönliche und literarische Umgebung, daß geistig- Vereinsamung die einzig mögliche Folge blieb. Wie sehr er sich im Elternhause und unter den Schulkameraden vereinzelt fühlte, wie wenig Verständnis der Sohn des Zuchthausverwalters für seine dichterischen Neigungen fand, lehren die Briefe

^DildM jetzt noch zugänglichen Ausgaben sind die vierbändige von Grisebach bei L°hr in Berlin 1902, die zweibändige von Otto Nietern bei Hoffe in Leipzig und die lungste drei Bänden von Franz und Zcmnert im Bibliographischeil Institut m Leipzig. Grenzboten III 1911