Inkognito
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„Ihr wäret da sicherlich bei einem der sieben weisen Meister," ironisierte der Göttinger Herr. „Was hatte er denn gegen den Preußen einzuwenden?"
„Na, so mancherlei. Nähen konnte er keinen richtigen Stich, aber auf jeden Groschen Lohn kam bei ihm für zwei Groschen Durst, und wenn er im Tran war, dann hielt er den Himmel für einen Dudelsack, weinte wie eine Gießkanne und brachte doch Lieder zusammen, so lang wie mein Arm, und gleich mit der doppelten Poesie. Sie dürfen mir's glauben."
„Alles, was Ihr wünscht," bestätigte der Türkendoktor belustigt. „Nur die doppelte Poesie müßt Ihr mir erklären."
„So besoffen wie der bin ich nie gewesen", wich das Schneiderlein aus und ließ sich auch durch weitere Fragen nicht festnageln.
„Volksweisheit", brummte der andere zuletzt und legte den Fall ganz gebildet dahin aus, daß Stanzen gemeint seien. Deppe aber war zufrieden. Ein hochstehender Geist brauchte doch die banale Erklärung nicht, daß bei Betrunkenen alles doppelt erscheint. In dem Bewußtsein, nun die Oberhand gewonnen zu haben, fing das Schneiderlein an zu trällern von Napoleon dem Schustergesellen, der in Rußland seinen Lohn bekam. „Sonst wärest duKaiser geblieben und hättest den allerschönsten Thron!"
„Viel Stimme habt Ihr nicht übrig," gab der Weggenosse geärgert zu verstehen. „Aber ein echtes Lied Eures Zeichens mag es schon sein. Will der Schneider jemand recht herabsetzen, dann nennt er ihn Schuster."
„Das ist wohl wahr, Herr."
„Und die liebe deutsche Dummheit. Was habt ihr denn bei der großen Befreiung gewonnen? Vorher wäret ihr Bürger und Menschen; jetzt — Hannoveraner oder womöglich gar Braunschweiger. Der Kaiser aber brachte Göttliches zuwege. Er entzündete die Leuchte des Liberalismus. Macht kein solch dämmeriges Gesicht, BanauseI An Napoleon hat die Welt viel verloren, sehr viel."
„O, das behauptete mein Vater selig alle Tage. Ich weiß noch genau, wie er Anno Zwölf im Sommer rief: Geht's so weiter, dann verlieren wir rein alles."
„Meiner dachte anders, ganz anders. Er war freilich kein Schneider."
„Nu eben? aber er hatte auch gut reden, Ihr Herr Vater, wenn er ein Türke gewesen ist."
Zum erstenmal schien den selbstsicheren Peregrinus die Schlagfertigkeit zu verlassen. Er musterte den nachgerade allzu vertraulichen Schwätzer an seiner Seite mit grimmigem Ausdruck. Indessen, — es war ja doch ein armseliger Gegner, beschränkt, schwächlich, ungebildet, nur durch Aufmunterung dreist geworden, ohne das vielleicht zu wissen. Wie? Er würde sich gewiß sein Leben lang rühmen, erführe er, wer es war, der ihn heute mit der Gunst persönlicher Zwiesprache beehrt hatte. Nicht gleich im nächsten Wirtshaus begänne er damit, aber schon über Jahr und Tag, wenn der Sonnenflug des — haha — Peregrinus dieses Volk allzumal überschattete.
„Auf die Berge will ich steigen, Lachend auf euch nicderschauen" summte er vor sich hin und beschloß, das Niesenspielzeug einer kurzen Stunde getrost fallen zu lassen.
„Ich bin ein Kosmopolit, aus altem kosmopolitischen Geschlecht," wandte er sich erhaben an den Schneidersmann, „und Ihr seid müde."