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Reichsspiegel
Reichsspiegel
wirtschaft g ^g. Februar 1911)
Das amerikanisch-kanadische Handelsabkommen — Wendung in der Handelspolitik
der Vereinigten Staaten — Die Bedeutung des Abkommens'für uns.
Meischnut — Der Wert unserer Viehzucht — Erhöhte Einfuhr von Futtermitteln —
Zollermäßigung,
Das vor kurzem zwischen den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada vereinbarte Handelsabkommen hat eine über die Grenzen der vertragschließenden Staaten hinausgehende allgemeinere Bedeutung, von der neben Großbritannien in erster Linie die deutsche Volkswirtschaft betroffen wird und die deshalb die ernsteste Beachtung verdient. Die Vereinigten Staaten wollen in dem neuen Vertrage seit vielen Jahrzehnten zum ersten Male den Grundsatz des cw-ut-cles anerkennen, der nach europäischer Auffassung die Voraussetzung aller Handelsabkommen ist, den Amerikanern hingegen immer nur als Vorwand gedient hat, von dem Vertragspartner die möglichst weitgehenden Zugeständnisse zu erlangen, während sie selbst dessen gleichartigen und von den ihrigen scharf konkurrenzierten Waren durch annähernd prohibitive Zölle den Eingang versperrten. Diese eigenartige Anschauung der Amerikaner erklärt sich einmal aus dem bei ihnen (und auch in Frankreich) bestehenden Doppeltarifsystem, das nach Möglichkeit keine neuen Handelsverträge mehr notwendig machen soll, sondern nur Abkommen über Annahme oder Ablehnung des Minimaltarifs. Nach dem Zollgesetz vom 5. August 1W9 ist der Präsident der Union zur Anwendung des Maxiwaltarifs solchen Staaten gegenüber ermächtigt, die die amerikanischen „unbillig differenzieren" (unciul^ äisLrimirmtion), und es ist bekannt, daß Taft erst in zwölfter Stunde den deutschen Waren den Minimaltarif eingeräumt hat, in dem jedoch viele Sätze völlig fehlen. Dann kommt hinzu, daß in den gesetzgebenden Kreisen der Vereinigten Staaten die alte (Blainesche) Auffassung von der Reziprozität noch zahlreiche Anhänger hat. Nicht am Zollgesetz herum flicken! Unterhandeln mit srcmden Ländern uud ihnen im Wege von Verträgen Zugeständnisse machen, ist Widersinn! Die Union bleibt bei ihrem einen, autonomen Tarif und vertritt somit den Grundsatz des stanä pst. Die Reziprozität darf nach den Verteidigern dieser Richtung nur in solchen Erzeugnissen zugestanden werden, die nicht in Konkurrenz mit den amerikanischen stehen. Da Deutschland Jndustrieprodutte nach der Union schickt, die mit den einheimischen in Wettbewerb treten, ist der Abschluß eines deutsch-amerikanischen Handelsvertrages geradezu eine Unmöglichkeit geworden. Denn Reziprozität auf dem Gebiete der Industrie zölle würde zum Freihandel führen und ist soinit verwerflich. Endlich darf nicht übersehen werden, daß die Mehrzahl der amerikanischen Handelspolitiker den Unterschied zwischen Doppeltarif- und Handelsvertragssystem überhaupt nicht kennt. Man behauptet, daß sich Frankreich und Deutschland handelspolitisch in derselben Richtung bewegten, weil jedes Land zwei „Schedules" aufgestellt habe. Daß jedoch das eine System eine autonome Schöpfung ist (Frankreich) und daS andere auf Grund der Mitwirkung des Vertragspartners zustande kommt, ist den Amerikanern keinesfalls geläufig.
Diese Verhältnisse mußten hier beleuchtet werden, um die Bedeutung des amerikanisch-kanadischen Handelsabkommens zu verstehen, nach dem Baumwoll samenöl, rohes Bauholz, Zinnplatten, Drähte, Marienglas, Gips und Druckpapier sortan zollfrei und die Sätze auf Motorfahrzeuge, Messerschmiedewaren, Uhren, Lederwaren, landwirtschaftliche Maschinen und Eisenerz beträchtlich herabgesetzt werden sollen. Das Abkommen ist allerdings noch nicht Gesetz, und wenn vereinzelte Stimmen auch zu melden wußten, daß der zu einer besonderen Sitzung einberufene