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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Kriege nicht vor, es sei denn, daß die Verwickelungen auf der Balkanhalbiusel wieder ein ernsteres Gesicht annehmen. Solange der Streit allein zwischen Griechenland und der Türkei schwebte, wären Befürchtungen in dieser Beziehung verfrüht gewesen. Jetzt aber fühlt sich Bulgarien durch die Türkei bedroht, weil diese die bulgarische Bevölkerung in Mazedonien entwaffnet; zwischen Bulgarien und Griechenland sind neuerdings Verhandlungen wegen Abschluß eines Schutz- und Trutzbündnisses im Gange. Sollten diese eine reale Gestalt annehmen, dann wären zunächst Österreich-Ungarn nnd damit Deutschland auf der einen Seite nnd Rußland auf der andern vor schwerwiegende Entschlüsse gestellt.
Ist Deutschland einer kriegerischen Eventualität gegenüber vorbereitet? Im Ausland wird unsre Armee gern als die erste in der Welt anerkannt. Die Berufung deutscher Offiziere nach Brasilien zur Reorganisation von dessen Armee ist der jüngste Beweis dafür. Auch die Leistungen uusrer Truppen bei den Friedensübuugen sind über alles Lob erhaben. Wie aber steht es mit der Führung? Stehn durchgehends die richtigen Männer am richtigen Platz? Gewisse Vorkommnisse, auf die auch Oberstleutnant von Sommerfeld iu uuserm Leitartikel anspielt, erfüllen jeden Patrioten mit tiefer Bekümmernis. Wie ist es möglich, daß trotz der scharfen ehrengerichtlichen Bestimmungen Menschen wie ein Schönebeck und Mersmann zur Stellung von Stabsoffizieren aufrücken konnten, obwohl sie nicht einmal Manns genug waren, ihr eignes Haus, ihren eignen Namen fleckenlos zu bewahren? Wie ist es möglich, daß ein von Gagern preußischer General werden konnte, trotzdem er sich vor den: Einbruch in die Ehe seines Untergebenen nicht scheute? Die Möglichkeit, daß solche Fälle fast ein halbes Menschenalter vertuscht bleiben konnten, lassen die bange Frage auftauchen, ob das Vertuschungs- system nicht auch auf dem Gebiete der praktischen Ausbildung iu Anwendung ist? Man hat trotz gesteigerter Anforderung schon lange nichts von Unregelmäßigkeiten bei der Erlangung von Schießauszeichnungen usw. gehört, — dürfen wir uns dieser Tatsache in Ruhe freuen? Kriegsminister, sei hart, es gilt nicht den Mann, sondern das Vaterland!
Die handelspolitische» Beziehungen Deutschlands zu seinen Kolonien. Seit der Begründung des neuen Deutscheu Reiches haben nur wenige politische Ereignisse solches Aufsehen innerhalb uud außerhalb der Grenzen unseres Vaterlandes erregt als die Erwerbung deutscher Kolouien. Was die einen lange wünschten und erstrebten, die anderen zaudernd und vorsichtig erwogen, und die Dritten mit aller Entschiedenheit bekämpften, ist durch die Besitznahme Angra Pequenas dann endlich Tatsache geworden. Und wenn auch die Ansichten über den wirtschaftlichen Wert unserer Schutzgebiete zurzeit noch sehr auseinandergehen, so steht doch das eine fest, daß das Ausgeben der Kolonien für das Reich einen großen Verlust bedeuteu würde und daß die Ansicht Cnprivis, nach der uns nichts Schlimmeres passieren könnte, als wenn uns jemand ganz Afrika schenkte, nur noch von den radikalsten Gegnern jeglicher Kolonialpolitik geteilt wird.
Allein mit der kolonisatorischen Tätigkeit ist die kolonialpolitische Theorie nicht Hand in Hand gegangen. Besonders nicht zur Zeit des Merkantilismus, in welcher die koloniale Prans mehr denn zuvor betrieben wnrde. Die wirtschaftspolitischen Ideen jener Zeit hatten nichts von einem theoretischen System an sich nnd betrachteten die Kolonien ausschließlich als Gegenstände zur wirtschaftliche,! Ausbeutung. Diese auch als Kolonialsystem bekannte Politik war eine völkerrechtliche Brutalität und wirtschaftliche Schädigung der Kolonien. Es mußten deshalb erst andere Auffassungen über diesen Gegenstand dnS Übergewicht gewinnen, um einer eigentlichen kolonialpolitischen Theorie, zu der auch die Regeluug der