Beitrag 
Die politische Lage der Türkei
Seite
318
Einzelbild herunterladen
 

318

Die politische Lage dcr Türkei

der Stärkung der Macht des Sultans entgegenwirken. Dazu kommt, daß England glaubt, die Konkurrenz Deutschlands, dessen gewaltige Eisenbahn quer durch Kleinasien seinen wirtschaftlichen Interessen gefährlich ist, bekämpfen zu müssen; es läßt deshalb kein Mittel unversucht, der wirtschaftlichen Erschließung Klein­asiens Hemmnisse zu bereiten. Dort enthüllen sich die ganzen Selbständigkeits­bestrebungen der arabischen Stämme als nichts anderes denn als Jntrigen Englands, mit dem unverkennbaren Zweck, der Befestigung der Macht des Padischah und der Expansion des deutschen Einflusses Schwierigkeiten zu bereiten.

Von Rußland ist eigentümlicherweise in der Streitfrage um Kreta wenig die Rede gewesen. Aber keineswegs entgeht die türkische Negierung Vorwürfen wegen ihrer allzu freundlichen Haltung gegen dieses Land, das der Türkei die schwersten Schläge versetzt hat, und das als alter Erbfeind betrachtet wird. Man fragt sich auch in der Tat vergebens, was die Türkei von Rußland Gutes zu erwarten hat, dessen ökonomische Entwicklung in weiten Teilen seines Gebietes kaum wesentlich fortgeschrittener ist als die der Türkei. Dagegen erkennt man auf den ersten Blick die Gefahren, die von dieser Seite drohen. Man braucht nur an den in Sofia veranstalteten panslawistischen Kongreß oder an die immer wieder zum Durchbruch gelangenden Aspirationen der orthodoxen Russen auf die Heilige Stadt, des Sitzes des Patriarchats, zu denken. Zudem entpuppt sich die Freundschaft zu Rußland als von England eingegeben, das ein heuchlerisches Bündnis mit Rußland unterhält, um es um so besser in Persien und Afghanistan übervorteilen zu können.

Zu Frankreich, das auch in der Kretafrage eine den Türken genehmere Rolle zu spielen versuchte, hegt das türkische Volk nach wie vor aufrichtige Sympathie und Verehrung. Es bedarf hierzu kaum einer besonderen Erklärung. Ist doch die französische Sprache in der Türkei Gemeingut aller Gebildeten. Da sie überdies die einzige europäische Sprache ist, die man kennt, erscheint naturgemäß der Fortschritt aller westeuropäischen Kultur im französischen Gewände. Frankreich weiß diesen Vorsprung vor den andern Staaten geschickt auszunutzen, indem es einmal durch seine Journalisten einen ungeheuren Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübt, und auf der andren Seite nicht mit liebenswürdigen Einladungen zum Besuch seiner Städte kargt. Noch vor wenigen Wochen führte man eine staunende türkische Studienkommission durch die schönsten Städte Frankreichs und gegenwärtig weilt innerhalb der Mauern von Paris ein türkischer Minister zum Studium französischer Einrichtungen und zur Anknüpfung finanzieller Beziehungen. So sehr ist die Liebe zu den Franzosen in die Herzen der Türken gedrungen, daß eine vor etwa zwei Jahren nach Europa entsandte Expedition türkischer Studenten, zweihundert an der Zahl, schon gleich nach der Ankunft in Marseille einstimmig erklärte, in Frankreich bleiben zu wollen, trotzdem sie gruppenweise auf verschiedene Länder verteilt war. Die Zahl der in Frankreich studierenden Türken beträgt heute etwa vierhundert, während im übrigen Europa kaum ein Dutzend weilen dürfte I