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Die politische Lage der Türkei
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Die politische Lage der Türkei

von Otto Iordans-Konstcmtinopel

ur wenig länger als ein Jahr ist es her, daß Europa täglich die alarmierenden Nachrichten von dem Aufmarsch der türkischen Truppen gegen Konstantinopel erhielt, daß es staunend erfuhr, Abdul Hamid sei zur Abdankung gezwungen und statt seiner Mcchomet der Fünfte auf den Thron erhoben. Die Jungtürken hatten erreicht, was sie solange erstrebten, freie Bahn für die Einführung westeuropäischer Institutionen an Stelle der Hamidischen Despotie.

Es ist erstaunlich, nach Jahresfrist zu sehen, wie wenig Widerstand die Anhänger des alttürkischen Regimes den wagemutigen Neugestaltern der türkischen Verfassung und Verwaltung entgegengesetzt haben. Wenn man von einigen heimlichen Attentaten oder der naiven Einäscherung des neuen Parlmnents- gebäudcs absieht, hat es einen Aufsehen erregenden Widerstand eigentlich gar nicht gegeben. Kaum daß man sich zu einer energischen Opposition in der Presse entschlossen oder es zur Bildung einer starken parlamentarischen Partei, wie etwa der der Reaktionäre in Nußland, gebracht hat. Die jüngst entdeckte Verschwörung charakterisiert sich nur als ein Räukespiel persönlich Interessierter, jedes idealen Schwunges und jeder politischen Tragweite bar.

Eine solche Resignation der Alttürken muß auf den ersten Blick wunder­nehmen, da doch der geistige Gehalt der von den Führern der Reformbewegung vertretenen Ideen den muselmanischen Auffassungen von Staat und Gesellschaft schnurstracks entgegenläuft. Erklärlich wird die Schwäche des Widerstandes nur. wenn man annimmt, daß nur sehr wenigen Männern die Bedeutung des Umschwunges bekannt war. In der Tat dürfte diese Annahme, nach ein­zelnen Parlamentsdebatten oder gelegentlichen Äußerungen der Presse zu urteilen, zutreffen.

GrmKoteu III 1910 40