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Lin Gottesurteil
Als es vom Turm der Pfarrkirche zwölf Uhr schlug und das Mittagsläuten begann, da sprang sie erschreckt auf, denn sie hatte ganz vergessen, daß ihr Herd noch ganz kalt war.
„Gott sei Dank," sagte der Vater, als sie draußen war.
„Aber sie hat recht," erwiderte die Mutter, „es war eine Warnung. Man soll Gott nicht versuchen. Wie leicht hätte uns das Kind genommen werden können."
Der Vater schwieg wieder lange Zeit.
Dann hob er das Gesicht aus den Händen. „Warum hast du das getan Toni?" fragte er, „was ist dir eingefallen? Hast du nicht gedacht, daß ein Unglück hätte geschehen können?"
„Ich weiß, was ihn dazu gebracht hat," sagte die Mutter, „er ist traurig, der arme Bub, daß es zwischen uns so ist — wie es nicht sein soll... glaubst du, ein Kind spürt das nicht, wenn sie ihn in der Schul' auslachen.. .?" Und sie strich ihm über den Kopf, ihrem Bundesgenossen, mit so viel Zärtlichkeit, wie ihm noch nie von ihr geworden.
In Toni schrie etwas: Nein. Er wollte sagen, was ihm im Sinne gelegen hatte. Aber es fanden sich keine Worte dafür. Und da verwirrten sich seine Gedanken so, daß er selbst nicht aus und ein wußte.
Es klopfte und einer der Jungen des Seiltänzers trat ein.
Er stand zuerst verlegen an der Tür, dann ging er schnell zum Tisch und legte einen geschlossenen Briefumschlag hin. Und war schon wieder draußen, ehe noch jemand eine Frage an ihn gerichtet hatte.
Die Mutter öffnete das Kuvert und zog eine Fünfgulden-Banknote hervor.
Sie reichte das Geld dem Vater und der hielt es in zitternden Fingern und betrachtete es wie etwas, was er noch nie gesehen hatte. „Mutter," sagte er, „das Geld darf nicht ausgegeben werden . . . niemals."
Dann erhob er sich. Auf seinem Gesicht las Toni einen neuen Willen. „Nein," fuhr der Vater fort, „man soll Gott nicht versuchen. Wir gehen morgen zuni Pfarrer, Mutter. Nächsten Sonntag soll das erste Aufgebot sein. Ich weiß jetzt, was meine Pflicht ist."
Da begann die Mutter laut zu weinen.
Vor Toni aber sank das Wunderland Amerika mit seinen unendlichen Weiten in einen dichten Nebel. Eine graue Mauer erhob sich an seiner Stelle. Seine Zukunft hatte keine Fernen mehr.
Dieser Tag war für Toni von trüber Trostlosigkeit. Das Glück seiner Mutter war ihm ohne Bedeutung. Das beschworene Schicksal hatte sich gegen ihn gewendet.
Gegen Abend aber brach eine neue Hoffnung in das Grau. Es war die Zeit, zu der man das blonde Mädel ans der Mohrenapotheke im Stadtpark sehen konnte. Da ging sie mit ihrer Erzieherin spazieren, ohne sich je in den Schwärm spielender Kinder zu mischen. Ein unwiderstehliches Verlangen nach ihr trieb Toni von Haus fort. Wenn er hier nicht verstanden worden war, sie würde ihn verstehen und bewundern. Vielleicht würde ihr Anblick alles das Mißfarbene erhellen, alles Unklare lösen.
Toni kam atemlos in den Park. Er scheute sich davor, mit anderen Jungen zusammenzutreffen, er fürchtete ihre Fragen und schlich in einem.Bogen um den Spielplatz auf den Weg, den das blonde Mädchen zu gehen pflegte.
Und nach einer Weile sah er sie wirklich kommen, an der Seite der langen, vornübergebeugten Erzieherin, in ihrem Spitzenkleidchen, mit dem Glockenhut.