Lin Gottesurteil
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Toni konnte nicht länger Widerstand leisten... es mußte sein... es war unmöglich, sich diesem Zwang zu entziehen, der seinen ganzen Körper zu vernichten drohte, wenn er nicht nachgab. ..
Er riß die Augen auf — da sah er die schwarze Menschenmenge in der Tiefe, die tausend emporgewandten Gesichter, weiße Flecke auf dem dunkeln Grund. Gerade unter ihnen verfolgten die Männer mit dem ausgespannten Fangnetz ihren Gang. Und gegenüber, an dem Fenster der Dachwohnung, standen der Vater und die Mutter, mit weißen, verzerrten Gesichtern, uud die Hände der Mutter waren mit gekrümmten Fingern in den Arm des Vaters geschlagen.. .
Das alles war von einem einzigen Blick umschlossen, ganz deutlich, mit allen Einzelheiten, die wie feurige Linien brannten.
Und da verspürte er die erbarmungslose Macht der Erde, ihren harten Griff, mit dem sie die Geschöpfe, die sich gegen die Schwere empören, zu sich herabzwingen will.
In wahnsinniger, heißer Angst faßte er die Kehle des Mannes noch fester. „Auslassen .. . Augen zu!" gurgelte der Seiltänzer.
Loslassen... gleiten... fallen. .. und aus! flüsterte der Tod. Aber noch war das Leben da und wollte den Sieg. Und es drückte die Augen des Knaben zu und lockerte seine Finger.
Der Seiltänzer setzte seinen Weg fort und erreichte das Dach.
Der Lärm des Beifalls tobte aus der Tiefe empor. Richard Richardson ließ Toni von den Schultern herab, trat mit ihm an den Dachrand und verbeugte sich vor der Menge, deren Blicke nun wieder machtlos geworden waren.
Dann kroch er mit ihm durch die Dachluke.
Da standen der Vater und die Mutter, keines Wortes mächtig, und die Nachbarin stürzte auf ihn los und betastete ihn, ob er auch wirklich gauz und lebend sei. Sie zog ihn zn der Mutter hin, die ihn weinend umarmte und küßte.
Der Seiltänzer, der die Szene verwundert betrachtet hatte, verstand endlich und beeilte sich, wieder bei der Dachluke hinauszukommen und den Rückweg anzutreten. Er begann auf einmal zu fürchten, daß er zur Rechenschaft gezogen werden könnte und daß die Versicherungen seiner Unschuld keinen Glauben finden würden.
Aber es dachte niemand an ihn. Über den Schatten des Entsetzens schwebte das Wuuder der Rettung, wie der lichte Schein, der auf dem Altargemälde der Jgnatiuskirche die Verklärung Christi umgab. Es war, als füllten sich die erstarrten Adern allmählich mit neuem Blut.
Dann saßen sie alle im Zimmer drüben, die Mutter beim Ofen, nnd sie hatte Toni ganz eng an sich herangezogen und spielte mit seinen Fingern. Der Vater hatte einen Stuhl zum Fenster geschoben. Aber'er sah nicht hinaus, obwohl man eben Richard Nichardsons Hauptkunststück hätte bewundern können: wie er sich auf dem Seil niederlegte, ganz auf den Rücken, und dann wieder aufstand. Melicher hatte die Arme auf das Fensterbrett gestützt und das Gesicht in die Hände gepreßt.
In der Mitte des Zimmers am Tisch saß die Nachbarin. Und die sprach für drei. Daß das eine Warnung Gottes gewesen wäre und daß es sehr schlimm hätte ausfallen können nnd man müsse Gott danken. Daß sie aber doch eine Freude habe, weil sie den Nachbar Melicher bis heute für einen schlechten und gefühllosen Menschen gehalten hätte und heute von ihrer Meinung abgekommen sei. Es habe sich deutlich gezeigt, daß er seinen Buben doch gern habe. Grenzboten III 1910 19