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Die Entstehung der Religion
und dann der Unterschied beider Persönlichkeiten und der von ihnen gestifteten Religionen dahin bestimmt, daß der Buddhismus der philosophischen Spekulation, das Christentum dem Gefühl und dem Willen entstamme. Wenn Übertragungen nachgewiesen würden, so sei immer nur von der legendären Zutat die Rede nnd werde das Wesentliche, die Lehre, übersehen. Auf seinen spekulativen Gehalt angesehen, sei der Buddhismus dem Christentum gegenüber nicht minderwertig, wenn es auch eine Verirrung sei, das Abendland mit der im fernen Osten entstmidnen und dessen Bedürfnissen entsprechenden Religion beglücken zu Wolleu. Praktisch aber sei das Christentum dem Buddhismus überlegen, der sich bei den philosophischen Köpfen in unfruchtbare Subtilitäten verirrt habe, bei der unwissenden Menge in die heidnische Märchenphantastik zurückgefallen sei.
Mit Genugtuung hat mich das letzte Kapitel des Werkes: „Gegenwart nnd Zukunft der Religion" erfüllt, denn es begründet zwei Ansichten, die ich selbst sehr oft und sehr nachdrücklich als meine Überzeugung ausgesprochen habe. Die eine lautet: Vereinigung aller Menschen oder auch nur der Menschen eines Volkes in einem religiösen (oder antireligiösen!) Glauben ist eine Utopie: nicht der Gleichförmigkeit, sondern immer reicherer Differenzierung strebt die Entwicklung zu. Von selbständig denkenden Menschen gilt, daß jeder seine eigne Religion hat; selbständiges Denken verbreiten heißt demnach die Zahl der Religionen vermehren. Sehr gut zeigt Wundt, daß die Einheit der Katholiken nur äußerlich, ihre vermeintliche Glaubenseinheit nur Einbildung oder Schein ist. Als kirchliche Organisation angesehen, sei der Katholizismus heute vielleicht einheitlicher, als er je gewesen ist, „aber eine einheitliche Religion ist er nicht mehr; eher könnte man ihn eine Enzyklopädie aller Religionen nennen, die je in der Menschheit vorhanden waren nnd die noch vorhanden sind", vom Fetischismus bis zur philosophischen Religion des modernen Gelehrten. Wundt hält es für möglich, daß sich die Hierarchie bei ihrer bewährten Anpassungsfähigkeit auch uoch zum Modernismus bequemen, dadurch ihre Herrschaft befestigen und vielleicht sogar ausbreiten werde. Der Hauptgrundsatz der Modernisten sei freilich für den ehrlichen Denker unannehmbar. Dieser Grundsatz besage nämlich, ein und derselbe Mann dürfe als Gläubiger „ja" sagen, wo er als Forscher „nein" sagen müsse. Ob damit die Modernisten richtig charakterisiert sind, mag dahingestellt bleiben. Wundt muß allerdings bei seiner Ansicht von der Gottheit, von der Seele und von der Offenbarung die Kluft zwischen dem christlichen Glauben und der Wissenschaft für unüberbrückbar halten. Ich bin andrer Meinung. Über Wundts Ansicht in Beziehung auf die ersten beiden Punkte habe ich mich im ersten Bande des Jahrgangs 1903 der Grenzboten S. 415 ff. geäußert, und wie der Glaube an eine Offenbarung mit der Wissenschaft vereinbart werden kann, ist oben angedeutet worden. Wieder einverstanden bin ich mit ihm - das ist nun der zweite unsrer beiden grundsätzlichen Treffpunkte —, wenn