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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht leicht zu fesseln ist, und gegenüber der Trockenheit andrer politischer Ver- sammlungs- und Tagungsberichte diese stürmischen Auseinandersetzungen im frischen, fröhlichen Schimpfton mit ihren für Unbeteiligte höchst belustigenden Grobheiten eine angenehme Abwechslung und Bewegung in das sonst so leicht einförmige Bild der pflichtmäßigen Berichterstattung bringen. Diese Schilderungen vertreten für den staatstreuen, gebildeten Leser, der sich selbst gegen sozialistische Anwandlungen gefeit weiß, ungefähr die Stelle jenes Gesprächsvon Krieg und Kriegsgeschrei", das einst in vergangnen Zeiten den braven Spießbürger an Sonn- und Feier­tagen erfreute. Aber man darf sich doch nicht verhehlen, daß der sachliche Gewinn aus dieser Betrachtung recht gering ist. Die Spannung, mit der hier und da von bürgerlicher Seite eine Spaltung der Partei oder eine Versöhnung der wider­strebenden Richtungen erwartet wird, die Überraschung, die man über Sieg oder Niederlage des Revisionismus zur Schau trägt, erscheint nach den zur Genüge gemachten Erfahrungen nicht recht begründet. Besonders dann nicht, wenn man glaubt, die innern Kämpfe der Sozialdemokraten unter sich könnten irgendeinen Vorteil für die bürgerlichen Parteien in sich schließen. Die Bewegungen inner­halb der sozialdemokratischen Partei geben schwerlich einen Maßstab für die Taktik der bürgerlichen Parteien, und auch die Alleinherrschaft des Revisionismus würde den berühmten Block von Bassermann bis Bebel, wie ihn Naumann träumte, nicht um einen Schritt seiner Verwirklichung näherbringen. Umgekehrt wird die Sache vielleicht eher richtig: es wird bis zu einem gewissen Grade von den Verhältnissen im Lager der bürgerlichen Parteien abhängen, wie die verschiednen Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie einander begegnen, ob die Radikalen rücksichtslos die Fahne des Prinzips hochhalten und den Revisionismus unterdrücken sollen, oder ob die revolutionäre Phrase zeitweise ihre Ohnmacht erkennen muß, um dem schweigsamern und doch zähen Opportunismus der Revisionisten eine Weile das Feld zu überlassen. So mag man, wenn man die Beobachtung richtig versteht und mit Vorsicht von ihr Gebrauch macht, in den Vorgängen im sozialdemokrattschen Parteilager ein Spiegelbild der Lage der bürgerlichen Parteien erkennen.

Wenn man den Versicherungen des Zentralorgans der Sozialdemokratie Glauben schenken wollte, so mußte man vor dem Zusammentritt des Parteitags annehmen, daß es zu einer fürchterlichen Abrechnung mit den Revisionisten kommen werde. Wenn jemand nicht an die völlige Vernichtung des Revisionismus glaubte, so lag es jedenfalls nicht am Vorwärts und nicht an Herrn Kautsky, dessen Uriasbrief über Eduard Bernstein noch kurz vorher die brüderliche Stimmung der Radikalen gegen den unbequemen Wortführer des Revisionismus so hell beleuchtet hatte. In Wirklichkeit haben sich in Leipzig die Revisionisten entschieden behauptet, sodaß die Mehrzahl der bürgerlichen Blätter sogar von einem Siege dieser Richtung spricht und feststellt, daß sogar Bebel selbst diesmal revisionistische Anwandlungen gehabt habe. Wenigstens merkte man diesmal nichts von dem Berserkerzorn, mit dem er einst in Dresden jedes Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft in Grund und Boden verdammte. Soviel Kraftworte auch in Leipzig fielen, der Radikalismus setzte doch seinen Gegnern nicht den Fuß auf den Nacken; er ließ mit sich reden. Die Lage ist eben ganz anders geworden.

Im einzelnen bot natürlich der Parteitag der Roten viel Interessantes. Er begann mit der Frage der Parteiarbeit an der Jugend. Dabei mußte ein wesentlicher Mangel eingestanden werden. Die Partei ist jetzt so alt, daß das Proletariat schon über einen Nachwuchs verfügen könnte, der ganz und gar in sozialdemokra­tischen Anschauungen befangen ist. Und doch will die Sache nicht vorwärts. Man hat unter den Genossen keine Leute, die für die Jugend schreiben.Für die